ECC - The Eurovision Corona Contest 2020

Der Eurovision Song Contest ist dieses Jahr leider ausgefallen, aber dafür haben die Politiker den European Corona Contest ausgefochten und warten nun ganz gespannt auf das Ergebnis. Deutschland fühlt sich zwar als Favorit, ist aber wieder mal wieder nur Mittelmaß.   

Epidemien sind lokale bzw. regionale Ereignisse. Innerhalb der einzelnen europäischen Staaten gibt es große Unterschiede hinsichtlich der Covid-19-Inzidenz (Infizierte pro Million Einwohner).
Doch die Seuchenbekämpfung fand überwiegend national statt - von der Verhängung der Maßnahmen bis hin zur statistischen Auswertung. Gut, dass Staatsgrenzen geschlossen wurden, so konnte das Ergebnis des diesjährigen Eurovision Corona Contest wenigstens nicht durch  Grenzübertritt des Virus verzerrt werden.

Beim European Corona Contest wird weder eine Jury noch das Publikum herangezogen. Grundlage der Wertung sind für mich die sehr informativen Erhebungen des Institute for Health Metrics and Evaluation zur Covid-19-Pandemie. Die Wertung entsteht durch die Bilanz aus geretteten Leben und dem dafür geleisteten Lockdown-Aufwand. Genaueres später.

Es haben 34 europäische Länder mitgemacht: Belgien, Bulgarien, Kroatien, Zypern, Tschechien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Moldawien, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweiz, Serbien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, Türkei, Großbritannien, Ukraine, Ungarn.

Russland habe ich aufgrund seiner Größe und des zeitlich verschobenen Epidemieverlaufes aus der Wertung genommen. Weißrussland hat nicht gemeldet. Kleine Stadtstaaten ebenfalls nicht.
Stichtag der Auswertung ist der 15.6.2020.
Wem der Artikel zu lang ist - hier gleich mal das Endergebnis

The Winner is ...


Lettland -  Apsveicam!
(Herzlichen Glückwunsch)
Lettland hat eine relativ niedrige Inzidenz. Diese scheint jedoch nicht das Resultat eines harten Lockdowns zu sein, denn der gehörte zu den 5 leichtesten aller Teilnehmer.
Ebenso das zweitplatzierte Ungarn und der Dritte Kroatien - alles Länder mit mildem Lockdown, der offenbar keine negative Auswirkung auf die Inzidenz hatte.
Und wir haben auf Platz 4 das "Wunder von Bern", denn die Schweiz ist in den Top Ten der am stärksten betroffenen Länder, hat aber mit dem sanftesten Lockdown Europas die Infektionszahlen  trotzdem deutlich reduziert.

Und wer sind die Schlusslichter? Das sind die hart getroffenen Länder, die einen ebenso harten Lockdown wählten: Frankreich (Platz 30), Großbritannien (31), Spanien (32), Belgien (33), Italien (34).

Wie habe ich eigentlich die Lockdown-Stärke ermittelt?


Lockdown-Stärke ermitteln - das Verfahren


  • Die Lockdown-Stärke wird anhand der vom IMHE angegebenen Mobilitätsdaten ermittelt. 
  • Der Beobachtungszeitraum beträgt 90 Tage ab Lockdown-Beginn.
  • Der Beginn des Lockdown ist jener Tag, an dem das Mobilitätsniveaus erstmals unter Normal-Null sinkt. 
  • Der näherungsweise berechnete Flächeninhalt der Kurve ergibt eine Zahl, die ich als Lockdown-Stärke bezeichne. 


Die am meisten getroffenen Länder


Beim Vergleich von Todeszahlen müssen wir wider besseren Wissens davon ausgehen, dass nationale Todeszahlen nach jeweils gleichen Kriterien angegeben werden. Dunkelziffern z.B. mangels Tests (Italien) oder auch zu hohe Daten mangels Test (Belgien) sind ebenso wahrscheinlich wie die Verzerrung der Statistik durch anderweitig stark erkrankte Patienten, bei denen Covid-19 nicht alleinige Todesursache ist (Deutschland).

Land Tote/Million 
1Belgien834
2Großbritannien605
3Spanien575
4Italien535
5Schweden449
6Frankreich439
7Niederlande348
8Irland332
9Schweiz226
...
12Deutschland104
...
26Island28
27Litauen28
28Kroatien25
29Bulgarien21
30Ukraine19
31Griechenland17
32Zypern15
33Lettland13
34Slowakei5

Tabelle 1: Covid-19-Tote/Million - Länderauswahl

Diese Statistik lässt übrigens reißerische Schlagzeilen zu wie:
"Erschreckende Corona-Bilanz - Zwanzig mal mehr Tote in Deutschland als in der Slowakei"  




Die fünf härtesten und die fünf lockersten Lockdowns


Fünf Länder kommen in diesem Modell über eine Lockdown-Stärke von 5000. Der Spitzenreiter Moldawien fällt hinsichtlich der vergleichsweise niedrigen Todesrate aus dem Rahmen, sowie der vorletzte Schweden mit der relativ hohen Todesrate. Überraschung ist, dass die Schweiz einen geringeren Lockdown hatte als Schweden. Das hängt vor allem mit der schnellen Rückkehr zur mobilen Normalität zusammen.


Land  Lockdown-Stärke Tote/Million 
1 Moldawien 5284 95
2 Italien 5207 535
3 Frankreich5145 439
4 Irland5047332
5 Spanien 4993 575
...
16 Deutschland 3624 104
...
31 Kroatien 2286 25
32 Lettland 2228 13
33 Ungarn 2203 56
34 Schweden 2141 449
35 Schweiz 2040 226

Tabelle 2: Lockdown-Stärke - Länderauswahl



Die besten Seuchenbekämpfer


Wer konnte die Inzidenz am stärksten senken?
Für einen einfachen Vergleich habe ich die Differenz zwischen der Inzidenz (Infizierte pro 100 000 Einwohner) am Tag der meisten Neuinfektionen (Peak) und der Inzidenz 70 Tage später gebildet.

Land  Inzidenz Peak Inzidenz 70 Tage Differenz
1 Belgien 2553 194 2359
2 Irland 1351 50 1301
3 Großbritannien 1415 163 1251
4 Spanien 1201 7 1194
5 Niederlande 876 52 824
...


13 Deutschland 230 22 208



Tabelle 3: Inzidenz-Differenzen vom Peak

Da sich in den Top Five drei Spitzenreiter der am stärksten betroffenen Länder finden (Belgien, UK, Spanien), könnte man einwenden, dass hohe Inzidenzen zum einen ein höheres Senkungspotential haben, aber andererseits von schlechter Bekämpfung zu Beginn der Epidemie künden.

Eine zweite Tabelle zeigt daher die Differenz zwischen der Inzidenz am Tag des Absinkens der Mobilität unter Normal (= Beginn Lockdown) und der Inzidenz 90 Tage später.

Land  Inzidenz Lockdown Start Inzidenz 90 Tage Differenz
1 Spanien 1167 20 1147
2 Luxemburg 430 17 413
3 Niederlande 417 45 372
4 Belgien 552 205 347
5 Großbritannien 466 133 333
6 Schweiz 391 61 330
7 Frankreich 379 169 210
8 Italien 234 67 167
9 Dänemark 151 23 128
10 Österreich 133 13 120
...


17 Deutschland 48 21 27



Tabelle 4: Inzidenz-Differenzen vom Lockdown

Hier finden sich nicht nur eher stark betroffene Länder auf den vorderen Plätzen, sondern genau jene Länder, die zu Beginn des Lockdowns bereits höchste Inzidenzen hatten. Die höchste Inzidenz ist allerdings nur bei Spanien und Luxemburg die Folge eines relativ frühen Höhepunktes der Epidemie. Die anderen Länder erleben den Höhepunkt erst im tiefen Lockdown.



Lockdown vs. Mortalität - die große Endauswertung



Wir benötigen einen Vergleich zwischen dem Nutzen des Lockdowns hinsichtlich der Vermeidung von Toten und dem Aufwand des Lockdowns hinsichtlich der verursachten Kosten. Dazu werde ich Deutschland zum Maßstab nehmen und anhand der Kosten des deutschen Lockdowns den Wert der geretteten Menschenleben ermitteln. Ich gehe wie folgt vor:

  1. Lockdown - Kosten
    Der Preis für den Lockdown beträgt nach Schätzungen des ifo-Institutes  zwischen 255 und 495 Mrd. EUR. Das ist bestimmt sehr niedrig geschätzt, aber egal, ich orientiere auf die untere Mitte und sage: 300 Milliarden EUR. Deutschland hatte eine Lockdown-Stärke von 3624 Punkten (Tabelle 2), demzufolge ist ein einzelner Lockdown-Punkt 82,78 Millionen Euro teuer. Pro deutschem Einwohner wäre das ein Betrag von knapp 1 EUR.
  2. Todesopfer ohne Maßnahmen
    Wenn die Epidemie bei einer erworbenen Herdenimmunität von 60% auf natürlichem Wege enden würde, dann wären bei einer an den Infektionen gemessenen Letalität von 0,36 % (Heinsberg-Studie) am Ende der Epidemie 2160 Tote je 1 Million Einwohner zu beklagen.
  3. Kosten einer Lebensrettung
    In Deutschland hätte man nach 2.) 179 280  Todesopfer verzeichnen müssen. Tatsächlich sind es aber nur knapp 9000. Durch den Lockdown wurden also (theoretisch) 170 280 Leben gerettet. Bei einem Lockdown-Preis von 300 Milliarden Euro hat eine Lebensrettung damit 1,76 Millionen Euro gekostet.


European Corona Contest Top Ten 2020  


Als erstes berechnen wir für jedes Land den Preis der geretteten Leben je 1 Million Einwohner:

(2160 - Tote/Mill.) x 1,76 Mill. EUR

Als zweites werden die Lockdown-Kosten ermittelt, indem die Lockdownpunkte mit 1 Mill. EUR multipliziert werden (1 EUR/Lockdown-Punkt x 1 Million Einwohner).

Schließlich besagt die Differenz, wie sich die Kosten des Lockdowns im Verhältnis zum Preis der geretteten Leben verhalten.

In der letzten Spalte ist zur Erinnerung noch einmal die Mortalität angeführt.


LandLeben
(Mill. EUR)
Lockdown-Kosten
(Mill. EUR)
Differenz Tote/Million
1Lettland 378322271556 13
2Ungarn 3706 22021504 56
3 Kroatien 3762 2285 147725
4 Schweiz 3407 2039 1368 226
5 Bulgarien 37682517 125121
6 Estland 3710 2584 1126 54
7 Tschechien 3751 2793 958 31
8 Ukraine 37732887886 19
9 Schweden 30142140874 449
10 Polen 37533119634 30

...



20 Deutschland 362336230 104

...



27 Luxemburg 34744788-1314 188
28 Moldawien 36385282-1644 95
29 Irland 32205045-1825 332
30 Frankreich 30325143-2111 439
31 Großbritannien 27404825-2085 605
32 Spanien 27924992-2200 575
33 Belgien 23374565-2228 834
34 Italien 28635205-2342 535

Tabelle 5: Differenzen Lebensrettung/Lockdownkosten - Länderauswahl


Schlussfolgerungen oder "Das Wunder von Bern"


Stark betroffene Länder (Tabelle 1) haben einen harten und kostspieligen Lockdown (Tabelle 2) durchgeführt und weisen daher eine negative Bilanz auf. Die Ausnahme ist jedoch Schweden, das es sogar in die Top Ten schafft und sich bilanztechnisch mit kaum betroffenen Ländern wie Tschechien messen kann.

Die Länder mit der besten Bilanz sind jene, die kaum getroffen waren (Tabelle 1) und gleichzeitig nur einen geringen Lockdown hatten. Demgegenüber gibt es Länder, die vergleichbar gering getroffen waren, aber ihre Bilanz durch einen kostspieligen Lockdown arg verschlechtert haben.   Z.B. Griechenland (Platz 23), Zypern (Platz 22) und die Slowakei (Platz 19).

Die Zahlen suggerieren eher die Abhängigkeit der Maßnahmen von der Inzidenz als umgekehrt. Zwar gibt es Länder, die eine relativ hohe Lockdown-Stärke und niedrige Inzidenz haben (Griechenland, Türkei), aber mehr noch gibt es Länder mit niedriger Lockdown-Stärke und niedriger Inzidenz (Lettland, Ungarn, Kroatien usw.).

Ein geringer Lockdown wie in Schweden könnte, wie oft vermutet wird, die Ursache für eine höhere Todesrate sein. Ein Vergleich mit Irland allerdings, das eine ähnlich hohe Start-Inzidenz zu Beginn des Lockdowns hatte, widerlegt diese Kausalität, denn Irland hat mit einem mehr als doppelt so strengen Lockdown Tote in ähnlicher Größenordnung (332 /Million).

Die Schweiz ist in den Top Ten auf Platz 4 und nimmt dort eine Sonderrolle ein. Sie hat erstens eine mittlere Inzidenz und kann zweitens  eine durchaus beachtliche Inzidenzreduktion (Tabelle 4) vorweisen. Von daher haben wir es hier eigentlich mit dem epidemiologischen "Wunder von Bern" zu tun:

  1. geringste Lockdown-Stärke in Europa
  2. bei mittlerer Inzidenz
  3. trotzdem hohe Inzidenzreduktion
  4. optimale Aufwand-Nutzen-Bilanz am Ende

Der Vergleich Frankreich vs. Schweiz wirft die Frage auf, warum ein doppelt so starker Lockdown bei ähnlichen Ausgangsbedingungen am Ende deutlich weniger effektiv ist:

 
FrankreichSchweiz
Lockdown-Start04.03.202008.03.2020
Lockdown-Stärke51452040
Infektions-Peak18.03.202018.03.2020
Mortalität (Tote/Mill.)439226
Start-Inzidenz (Infizierte/100 000)379391
90-Tage-Inzidenz (Infizierte/100 000)16961
Inzidenz-Reduktion (Infizierte/100 000)210330
Bilanz (Mill. EUR/Mill. Einwohner)-21111368

Und wer noch einwendet, dass es an der Bevölkerungsdichte liegen könnte, dem sei gesagt, dass diese in der Schweiz mit 206 Einwohnern/km2 deutlich höher ist als in Frankreich mit 122 Einwohner/km2.

Aber das ist ja erstmal nur eine Zwischenbilanz. Der Wettbewerb geht weiter.
Ganz gespannt warten wir jetzt auf die zweite Welle und alle Politiker hoffen, sich dann wieder beweisen zu können.
Und wenn sie keinen Impfstoff gefunden haben, dann kämpfen sie noch heute.

Covid-19-Risikobewertung für Einundachtzigjährige

Wie hoch ist eigentlich das Risiko eines Angehörigen der Risikogruppe an Covid-19 zu sterben? Wie verhält sich dieses Risiko zum allgemeinen Sterberisiko und zu anderen Erkrankungen? Und welche Unterschiede gibt es von Land zu Land? 

Das Durchschnittsalter der durch eine Infektion mit Covid-19 verstorbenen Menschen liegt laut Robert-Koch-Institut am 28.05.2020 in Deutschland bei ca. 81 Jahren (Quelle: rki).
Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt für 2019 in Deutschland zufälligerweise ebenso bei ca. 81 Jahren. (Quelle: destatis):

Bereits in Wuhan wusste man, dass Covid-19 für Menschen unter 60 Jahren harmlos ist, was unter anderem dazu geführt hat, dass die Bundesregierung bis Anfang März nicht allzu besorgt war.
Wie groß ist aber das Risiko der Alten? Was muss ein 80-jähriger befürchten?


Das allgemeine Sterberisiko eines 81-Jährigen in Deutschland 


Im statistischen Durchschnitt hat ein 81-jähriger Deutscher keine Lebenserwartung mehr. Da er aber 81 Jahre alt geworden ist, besteht glücklicherweise eine relativ große Chance auch 82 Jahre und mehr zu werden.  Sofern man die Unterschiede der Geburtenrate außer Acht lässt, könnte man die sich verringernden "Bestände" pro Jahrgang als Wert für die Überlebensrate verwenden.
Also schauen wir auf die Jahrgänge 1931-1940 in Deutschland (Quelle: destatis):




Rund 11% der 81-jährigen erleben leider nicht mehr das nächste Lebensjahr. Von 80 zu 81 sind es 5%. Von 82 zu 83 sind es ebenfalls 11%. Von 83 zu 84 10%. Ich würde mich auf einen Durchschnittswert dieser 4 Gruppen festlegen und der liegt bei 9%.

Das allgemeine Sterberisiko eines 81-jährigen liegt also pro Jahr bei 9% . Durch besondere Vorkommnisse wie z.B. eine Corona-Epidemie müsste sich dieses Risiko erhöhen.
Schauen wir uns einmal an, wie die Epidemie das Sterberisiko erhöht hat.


Sterberisiko eines 81-jährigen in Deutschland stieg um 0,87%


Im Zuge der Corona-Epidemie sind in Deutschland 0,0108 % der Bevölkerung verstorben.
Der Anteil der an Covid-19 gestorbenen Menschen schlüsselt sich in Deutschland laut RKI Ende Mai wie folgt auf (Quelle: rki):




Anteilig an der Altersgruppe der Gesamtbevölkerung ergibt sich:

0,00018% Tote in Altersgruppe  30-39
0,00066% Tote in Altersgruppe  40-49
0,0021 %  Tote in Altersgruppe  50-59
0,0075%   Tote in Altersgruppe  60-69
0,025%     Tote in Altersgruppe  70-79
0,078%     Tote in Altersgruppe   80-89
0,19%       Tote in Altersgruppe  90-99
1,25%       Tote in Altersgruppe  100+

Die Anteile der Gestorbenen stellen sich in anderen Ländern kaum anders dar. Pressemeldungen von betroffenen Kindern und jungen Menschen müssen nicht falsch sein, aber sie sollten in Relation zu den Daten gesehen werden.

So wir den  81-Jährigen in Deutschland als exemplarisch für die Altersgruppe 80-89 sehen wollen (das ist geschmeichelt), kam zu den 9% des allgemeinen Sterberisikos infolge der Epidemie ein zusätzliches Risiko von 0,078 % hinzu und wuchs auf 9,078 %.
Es handelt sich um einen Durchschnittswert. Wie wir wissen, ist das Risiko für Vorerkrankte höher als für halbwegs Gesunde. Für Heimbewohner größer als für Singles, die vorwiegend allein leben.

Das Sterberisiko erhöhte sich für den deutschen 81-Jährigen im Jahre 2020 durch die Epidemie bis jetzt um 0,87 %.

Doch wir hatten in Deutschland Maßnahmen, von denen wir annehmen (sollten), dass sie die Todesrate reduziert haben oder wir nehmen mindestens an, dass Deutschland nicht so stark betroffen war wie andere Länder.
Dies ist ein Anlass für die Frage, wie hoch das Risiko eines 81-Jährigen in einer der weltweit am stärksten betroffenen Regionen war bzw. ist - der Lombardei?

Sterberisiko eines 81-jährigen Lombarden stieg um 13%


Man darf behaupten, dass die Lombardei, speziell die Region Bergamo, den Ausbruch der Epidemie verschlafen hat. Der Bürgermeister von Bergamo behauptet, dass der Virus schon Ende Dezember im Norden Italiens angekommen war (Quelle: ntv). Noch 8 Wochen später fanden Großveranstaltungen statt und erst kurz danach wurde der erste Patient positiv auf SARS-Cov2 getestet.
Doch das war zu spät, um die Explosion noch zu vermeiden. Diese bestand darin, dass nunmehr auch eine große Anzahl der Risikogruppe infiziert war, noch dazu, weil der Virus seit Wochen ausgerechnet dort im Verborgenen umher ging, wo die Risikogruppe besonders gut erreichbar war - im Gesundheitswesen.
Also ist die Lombardei - ähnlich wie New York oder London - im Gegensatz zu Deutschland ein Fallbeispiel für eine lange, ungehemmte Ausbreitung des Virus. Natürlich nur so lange, bis auch dort Maßnahmen ergriffen wurden.

Die Lombardei hat Ende Mai bei 10 Millionen Einwohnern 16 000 Tote zu beklagen (Quelle: ihme). Das sind 0,16 % der lombardischen Bevölkerung.
Das altersspezifische Risiko eines 81-jährigen Lombarden kann durchaus basierend auf den Relationen der vom RKI ermittelten Altersstruktur der deutschen Toten ermittelt werden. Hier ergibt sich für die Gruppe 80-89 ein Faktor von 7,5 zur Gesamtbevölkerung.
Demzufolge ist bzw. war das Todesrisiko eines 81-Jährigen Lombarden 1,2%, an Covid-19 zu sterben.
Das mit Deutschland als vergleichbar anzunehmende allgemeine Sterberisiko von 9% stieg also auf 10,2%. Das Sterberisiko erhöhte sich damit um 13 %.

Sterberisiko eines 81-jährigen Schweden stieg um 3,7 %


Ein anderer Vergleichsfall ist Schweden. Die Epidemie wurde hier keineswegs verschlafen. Aber die Maßnahmen waren milde im Vergleich zu anderen Ländern. Im Grunde gab es keinen Lockdown, die Schulen blieben offen und die Mobilitätsdaten belegen eine nur halb so große Einschränkung der Schweden (-30%) im Vergleich zu den Deutschen (-55%), während die Lombarden (-90%) eine drei mal stärkere  Mobilitätseinbuße aufweisen als die Schweden (Quelle: ihme).

Mit seinen 10 Millionen Einwohnern kommt Schweden Ende Mai auf 4400 Corona-Tote, das sind 440 Tote pro Million Einwohner bzw. 0,044 % der Gesamtbevölkerung (Quelle: ihme).
Für den 80-jährigen Schweden ergibt sich unter Berücksichtigung der Opfer-Altersstruktur ein Corona-Todes-Risiko von 0,33 %.
Das mit Deutschland als vergleichbar anzunehmende allgemeine Sterberisiko von 9% stieg also auf 9,33%. Das Sterberisiko erhöhte sich damit um 3,7 %.

Sterberisiko eines 81-jährigen im deutschen Worst Case (BMI) wäre um 88% gestiegen


Das offiziell einsehbare BMI-Corona-Strategie-Papier gibt exemplarisch Auskunft über den Stand der Überlegungen in Regierungskreisen zum Zeitpunkt Mitte März (Quelle: bmi). Demzufolge kam ein Expertengremium zum Schluss, dass bei einer ungebremste Ausbreitung des Virus bis Ende Mai mit 1,16 Millionen Toten zu rechnen ist. Zum Vergleich. Es sind heute (28.05.2020) weltweit 361 000 Coronatote gemeldet (Quelle: worldometer).

Dem Papier zufolge hätten sich Ende Mai  57 Millionen Menschen in Deutschland mit dem Virus infiziert. Nach dem Modell der Herdenimmunität wäre damit zu rechnen, dass die Epidemie somit zu einem natürlichen Ende gekommen wäre. Das Papier nennt dies den Worst Case.
Die Todesrate in der Bevölkerung betrüge 1,4 % und gemäß der RKI-Verteilung würde dies in der Gruppe der 80-89-Jährigen zu einer Todeswahrscheinlichkeit von 10,5 %  führen.
Die Multiplizierung der Risiken für den Worst Case auf die Altersstruktur käme zu folgenden Todesraten:

0,0017 % Tote in Altersgruppe  0-9
0,0034 % Tote in Altersgruppe  10-19
0,012 % Tote in Altersgruppe  20-29
0,024 % Tote in Altersgruppe  30-39
0,084 % Tote in Altersgruppe  40-49
0,027 %  Tote in Altersgruppe  50-59
0,96  %   Tote in Altersgruppe  60-69
3,21 %    Tote in Altersgruppe  70-79
10.04 %   Tote in Altersgruppe   80-89
24,45 %  Tote in Altersgruppe  90-99
100%    Tote in Altersgruppe  100+

Diese Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen, denn der Worst Case geht davon aus, dass das Gesundheitssystem unter der Last des Ansturms zusammengebrochen wäre. Es wären Menschen gestorben, die bei adäquater Behandlung nicht hätten sterben müssten. Vermutlich würde dies zu einer anderen Altersstruktur der Toten führen. Jüngere Gruppen, z.B. die 60-69-Jährigen würden anteilig hinzugewinnen.
Eine Folge von einer reinen Multiplizierung des Risikos wäre übrigens, dass alle Hundertjährigen aus Deutschland umkommen und ein Viertel der Generation Ü90-100. Selbst in einem Horrorszenario wie dem BMI-Worst-Case erscheint das unrealistisch. Ich glaube, wenn man 2 Prozentpunkte bei den 80-89-Jährigen abzieht und die Anteile in die beiden darunter liegenden Altersgruppen verschiebt, hat man diesen Effekt der Systemüberlastung berücksichtigt.

Nach dem Worst-Case-Szenario hätte also ein 81-jähriger ein geschätztes Risiko von 8%, zu den Toten der Corona-Epidemie zu gehören.
Das allgemeine Sterberisiko von 9% würde also auf 17 % steigen. Das Sterberisiko würde sich damit um 88 % erhöhen.


Bewertung


Diese Zahlen können unter Hinzuziehung zweier Fragen bewertet werden:

1. Frage: In welchem Verhältnis steht das Corona-Todesrisiko zu anderen ausgewählten Todesrisiken (Krankheiten)?

Die häufigsten  Todesursachen eines in Deutschland lebenden 81-Jährigen seien hier genannt, wobei die erste Zahl, den Anteil an den Todesursachen nennt und die zweite Zahl den Anteil der 81-jährigen, die innerhalb eines Jahres daran versterben werden. (Quelle: bib):

Herz-Kreislauf-Erkrankungen: 37%   -> 3,3 %
Krebs: 25%    -> 2,25 %
Atmungsorgane: 7%  -> 0,63 %
Verdauung: 5%   -> 0,45 %
Unfälle/Selbstmord: 4%  -> 0,36 %
Infektionen: 2% -> 0,18 %
Sonstiges: 20%  -> 1,8 %

Es ergeben sich daraus diverse Aussagen.
Das Risiko eines deutschen 81-Jährigen dieses Jahr an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben, ist bzw. war 42 mal höher als an Covid-19 zu sterben.

Das Risiko eines lombardischen 81-Jährigen dieses Jahr an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben, ist bzw. war immerhin "nur" 2,5 mal höher als an Covid-19 zu sterben.

2. Frage: In welchem Verhältnis stehen Maßnahmen zur Erhöhung des Sterberisikos?

Die Regierungen beinahe aller Länder haben keine speziellen Schutzkonzepte für die Risikogruppen von Covid-19 angewendet, sondern pauschal versucht, die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Welche Maßnahmen wie gewirkt haben, kann nur Gegenstand anderer Betrachtungen sein.

Fakt ist, dass die Gefährlichkeit des Virus individuell zu beurteilen ist. Auch bei 81-Jährigen.
Nach der hier erfolgten statistischen Risikobetrachtung ist ebenso Fakt, dass selbst unter widrigsten Umständen (Lombardei) das Todesrisiko in einem Maße steigt, das allzu starke Eingriffe in die Lebensqualität infolge sonstiger Risiken fraglich erscheinen lässt. Zumal es eben nicht nur Eingriffe in das Leben 81-Jähriger sind, sondern in das Leben aller, die langfristig schwer kalkulierbare Folgen haben können.

Leider ist es dem 81-Jährigen nicht selbst überlassen, die Schutzmaßnahmen an seine persönliche Bewertung des zusätzlichen Sterberisikos anzupassen, obwohl genau dies die logische Konsequenz in einer offenen, freiheitlichen und individualistischen Gesellschaft wäre.
Das, was als Solidarität aller mit den Alten gepriesen wird, ist gleichzeitig leider auch ein Bevormundung jener Altersgruppe, die weiß, dass jeder Tag der letzte sein könnte. Es wurde für Menschen entschieden, die nicht mehr über das Ob sondern nur noch über das Wie des Sterbens nachdenken. Vor allem jene, die aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes besonders gefährdet sind und daran besonders leiden. Das ist sicher anders, als es sich Jugendliche vorstellen. Ein Mensch, der seine Lebenserwartung erreicht hat, denkt anders über die Zukunft als ein junger Mensch.
Hier liegt ein Missverständnis vor, das seine Ursachen in einem völlig übersteigerten Moralempfinden hat, auch in der Verdrängung des Todes und auch in der Abwesenheit von echten, verbindenden und belastbaren Werten in einer Gesellschaft. Klar, wenn es keine höheren Werte gibt, wird die reine Lebenszeit zum einzigen verbliebenen Wert.

Für einen 81-jährigen lohnt es sich rein statistisch nicht, zur Steigerung seiner Lebenserwartung eines seiner letzten  Lebensjahre in Quarantäne zu opfern. Zum wachsenden allgemeinen Sterberisiko kommt ja noch hinzu, dass die Quarantäne selbst das Sterberisiko erhöht. Das ist schwer zu beziffern, aber wenn es nur eine Erhöhung im einstelligen Bereich wäre, wären sämtliche Corona-Schutz-Effekte hinfällig.