Bewegungsprogramm vor Klangvorstellung

Die Klangvorstellung gilt gemeinhin als Vorbedingung der Klangerzeugung. Das ist für den gestandenen Musiker richtig. Für den Lernenden gilt jedoch meiner Meinung nach genau das Gegenteil. Seine klangliche Intuition und sein Wunsch nach schneller Befriedigung der Klangvorstellung behindern das Erlernen der richtigen Bewegungsprogramme. 

Ich habe in den letzten Jahren sehr viele Anfänger unterrichtet. Die meisten verfügten über wenig musikalische Vorbildung und durchschnittliche natürliche Grundbegabung, was Rhythmik, Gehör, Motorik, Leidenschaft usw. angeht. Das fordert von mir eine relativ mühsame und geduldige Arbeit, aber es verschafft tiefe Einblicke in die Grundlagen des Musizierens. 

Es kann sein, dass ich hier etwas wiederhole, das in Fachkreisen längst bekannt ist: Erstens ist mir der gravierende Unterschied zwischen Klangvorstellung und Bewegungsprogramm aufgefallen. Zweitens habe ich entdeckt, dass die Klangvorstellung - entgegen dem, was man vermuten könnte - nicht am Beginn des Musizierens stehen sollte, sondern das Bewegungsprogramm. 
Mit Bewegungsprogramm meine ich den zeitlich korrekten Ablauf von Spielbewegungen. Das Bewegungsprogramm muss komplett vom Schüler verstanden sein, was häufig mit dem Notenlesen einhergeht. Dann wird es in einem ersten, langsamen Tempo umgesetzt - vom Blatt prima vista. Dann wird es durch eine größere Anzahl richtiger Wiederholungen gefestigt und automatisiert. Erst nach der Automatisierung kann sich nun die Klangvorstellung entwickeln. 

Entgegen der Klangvorstellung, die beim Schüler durch das Hören eines durch den Lehrer gezeigten Klangs entsteht, ist die auf dem eigenen gelernten Bewegungsprogramms basierende Klangvorstellung eine fundierte und gesicherte. Sie führt dann umgedreht tatsächlich zur "guten" Musik, die darauf basiert, dass eine Klangvorstellung zu jener Bewegung führt, die den Klang exakt wiedergibt. Mit anderen Worten: Wir lernen durch die Programmierung von Bewegungen besser, schneller und richtiger als durch Imitation. Insofern kann eine imitatorische Begabung, ein gutes klangliches bzw. rhythmisches Gedächtnis und auch eine Bewegungsbegabung regelrecht hinderlich sein, sich auf dem Instrument wirklich zu verbessern. 

Ich denke dabei auch an den Typ: musikantischer Autodidakt. Mit musikalisch begeisterten Autodidakten, die sich schon etwas selbst beigebracht haben, habe ich aufgrund des oben genannten Umstands oft Probleme. Ihre Klangvorstellung hindert sie daran, das richtige Bewegungsprogramm zu verstehen und langsam einzuprogrammieren. Vielmehr versuchen sie, mit ihren beschränkten spielerischen Mitteln einen Klang zu imitieren, den sie entweder im Kopf haben oder den sie durch ein Hörbeispiel vermittelt bekommen haben. So haben sie bisher halt immer gelernt. 

Langsame Bewegungsprogramme haben mit Musik und Klang fast nichts zu tun. Sie sind eine Art  Achtsamkeitsübung, also für viele eine reine Geduldsprobe. Eingedenk der nötigen Wiederholungen im zeitlichen Abstand auch noch ein Akt der Disziplin und des Willens. Nichts für leidenschaftliche Eiferer. Das alles zahlt sich aber doppelt und dreifach aus, was die Schüler aber erst nach einer Weile mitbekommen. 

Es ergeben sich noch ein paar weitere Schlussfolgerungen aus der Erkenntnis, dass das Bewegungsprogramm die Grundlage des Musikmachens ist und nicht die Klangvorstellung. Rhythmenklopfen beispielsweise ist überflüssig, weil der Rhythmus am Ende im instrumentenspezifischen Bewegungsprogramm verankert ist. Das Singen von Melodien, bevor man sie spielt, ebenfalls. Es bringt rein gar nichts, denn das Gehirn kann nicht gleichzeitig eine Melodie reproduzieren und sich auf die Bewegungsabfolge konzentrieren. Dies würde nur gehen, wenn die Bewegungsabfolge schon fest automatisiert ist. Und genau das ist beim Schüler oft nicht der Fall. 

Wenn bekannte Lieder gespielt werden, ist die existierende Klangvorstellung hinderlich für das richtige Notenlesen, manchmal auch für rhythmische Exaktheit (Noten- bzw. Taktlängen) und für technische Details (Fingersätze). Der gefühlte Klang dominiert und die Folge sind häufig Fehler, die nur unter Frust zu beseitigen sind. Unter Frust deswegen, weil die Befriedigung der Klangvorstellung schon eingesetzt hat und es kaum noch Motivation zur Verbesserung führt. 
Die Klangvorstellung erstmal auszublenden, heißt, deren vorschnelle Befriedigung zu verhindern. Einen bestimmten Klang nicht sofort zu erreichen, mag unbefriedigend und auf Dauer demotivierend sein. Eine schnelle Klangbefriedigung zu erreichen, die auf falschen bzw. ungünstigen Bewegungsabläufen basiert, ist demgegenüber aber eine Todsünde bezogen auf die Weiterentwicklung. Man erkauft einen schnellen Sieg mit schweren Niederlagen in der Zukunft. 

Bei echten Anfängern hat man die Möglichkeit, von Anfang an die Erfüllung der Klangvorstellung an das Lernen der richtigen Bewegungen zu koppeln. Das erfordert allerdings ein darauf abzielendes Konzept. Der jeweilige musikalische Gegenstand muss so beschaffen sein, dass der Schüler in angemessener Zeit vom Bewegungsprogramm zur Klangvorstellung gelangt. Er muss durch die Klarheit und die erkennbare Struktur der Musik von seinem Wunsch nach Klangbefriedigung abgehalten werden. Das ist gar kein Problem, wenn man sich vorstellt, dass es hier maximal um 1-2 Wochen geht, im Vergleich zu den Jahren vorher, in denen er diesen Wunsch auch nicht befriedigen konnte. Der Schüler darf es gar nicht erst anders kennen lernen. 

Zuerst also die rein verstandesmäßige Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, dann die Programmierung und das Wiederholen, dann schließlich die Klangvorstellung und deren Befriedigung. Das Ergebnis soll ein Schüler sein, der auf der Basis all seiner eingeübten Bewegungsprogramme beginnt zu musizieren. 

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