Lob des Auswendiglernens


Wissen ist nur dann zu gebrauchen, wenn man sich im entscheidenden Augenblick daran erinnert. Dazu muss man es auswendig beherrschen. Ob Tonnamen, Skalen oder Akkorde - die musikalische Leistungsfähigkeit steigt mit der Anzahl an auswendig beherrschten Inhalten. 

Der Ruf des Auswendiglernens ist etwas ramponiert. Auswendiglernen gilt speziell vor dem Hintergrund des reformpädagogischen Bemühens als eine fragwürdige Form des Lernens.
Vielleicht habe ich es an anderer Stelle schon erwähnt: So wie sich geschätzte 90% der verkauften Gitarrennoten an Anfänger richten, beschäftigt sich die Reformpädagogik zu 90% mit Lernanfängern - also mit Kindern. Es gibt deutlich mehr Grundschulen und Kindergärten mit alternativen pädagogischen Konzepten als solche Oberschulen oder Gymnasien, geschweige denn höhere Bildungseinrichtungen. Zu unrecht, wie ich meine, denn die eigentlichen Veränderungen im Zuge des Wissenszuwachses und der Spezialisierung betreffen ältere Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Warum erwähne ich das?

Ich beobachte bezüglich des Auswendiglernens ein Paradoxon: Kleinen Kindern wird das Auswendiglernen zunehmend abgenommen. Großen Kindern und Jugendlichen wird es zumindest nahe gelegt. Im Grundschulalter werden strikte Abfrage-, Gedicht- oder Liedkontrollen zugunsten des verstehenden Lernens reduziert. Doch mit zunehmender Bildungsstufe wird das kurzfristige Auswendiglernen von Inhalten mit guten Zensuren belohnt. Stichwort: Bulimiewissen. Wohl kaum jemand wird diese Form des Lernens verteidigen, doch für die Schüler ist das "Für-Tests-Lernen" Realität. Das Problem beim Bulimiewissen ist nicht das Essen, sondern das Kotzen. Sprich: das schnelle Vergessen. Vergessen jedoch ist der Hauptfeind des Denkens und der Intelligenz. Man weiß ja, welche kognitiven Einbußen ein Mensch hat, der infolge einer Krankheit vergesslich wird.

Glaubt man Hirnforschern, dann funktioniert unsere Gehirn nicht wie ein klassischer Computer. Schauen wir uns den Computer an: Er arbeitet mit Daten (Festplatte/Arbeitsspeicher) und Rechenprozessen (Prozessor). Diese Zweiteilung kennt unser Gehirn nicht. Informationen und Prozesse sind eins. Es mag uns so vorkommen, dass wir Erinnerungen (Daten) haben, mit denen wir dann denken (Rechnen). Wir brauchen aber nur mal eine ganz einfache Rechenaufgabe nehmen: 2 + 2 . Die meisten Menschen haben sich nach mehr oder weniger langer Zeit gemerkt, dass 2 + 2 gleich 4 ist. Und auch , dass 6 + 5 gleich 11 und 20 - 5 gleich 15 ist usw.. Werden die Aufgaben unübersichtlicher, gelingt das nicht mehr. 222 geteilt durch 5. Und was machen wir, sofern kein Rechner zur Hand ist? Wir versuchen auf eben jene Ebene der einfachen, gelernten Aufgaben zu gelangen: Teilen also zunächst 200 durch 5, dann 20, dann 2 und summieren die Teilergebnisse. Alle 3 Einzelaufgaben werden durch memoriertes Wissen gelöst. Der Lösungsweg ist ein eingeübter Prozess, an den man sich erinnert und bei dem man sich an Aufgaben erinnert, die man schon einmal so gelöst hat.
Eine Abstraktion des Gehirns beruht auf abgespeicherten Mustern, also auf Erinnerungen an etwas, das vergleichbar mit dem jeweiligen Gegenstand ist. Je mehr Muster gelernt wurden (notwendigerweise auswendig), desto besser kann gedacht werden. Denken ist in dem Moment eine Art des Vergleichens dieser Muster, das in der Regel vollkommen unbewusst und schnell zu einem Resultat führt. Bewusstes Denken, z.B. das "Durchrechnen" von Zügen beim Schach, ist das Kombinieren dieser schnellen Erinnerungen, so wie die Lösung des obigen Rechenbeispiels. Wer viel Schach spielt, lernt nicht nur, die Komplexität dieser Kombinationen zu erhöhen, sondern er memoriert Situationen, Probleme, Lösungen, Reaktionen, Strategien usw.. Informatiker versuchen, dieses Prinzip des Lernens auf die Maschine zu übertragen. Und das pfeifen die Spatzen mittlerweile vom Dach: künstliche Intelligenz. Die Maschine gewinnt ihre Intelligenz durch Erinnerungen an jene Inhalte, mit denen sie "gefüttert" wurde.

Der Pädagoge muss erkennen, dass jegliche kognitive Leistungsfähigkeit auf dem Memorieren beruht. Und es ist leicht nachvollziehbar, dass man sich den mühsamen Weg des Memorierens lieber ersparen würde. Mit "man" meine ich den Lehrer und den Schüler gleichermaßen. Beide suchen nach Vermeidungsstrategien. Anstatt das "Auswendiglernen" (anderes Wort für Memorieren) zu verbessern und zu vereinfachen, vermeidet man es lieber, wo es nur geht. Es strengt den Lehrer schließlich auch an, seinen Schülern auf die Nerven zu gehen. 
Die Problematik solcher Vermeidungsstrategien verdeutliche ich meinen Schülern mit folgendem Vergleich: Wenn ein Lehrer die Schüler einer Schulklasse mit dem richtigen Namen ansprechen will, muss er die Namen lernen. Es ist sehr verständlich, dass der Lehrer diesen Anstrengung und auch  schlecht zu kalkulierenden Aufwand reduzieren möchte, aber er muss es tun. Eselsbrücken und Eselskrücken (also z.B. Namensschilder oder Sitzpläne) verzögern das Lernen eher als es zu fördern.

Für Musiker ist Auswendiglernen sehr wichtig. Es geht dabei nicht primär um das Auswendiglernen von Musikstücken, sondern um die Schnelligkeit beim Erfassen von Inhalten. Z.B. die Schnelligkeit, mit der Noten oder Akkorde identifiziert und umgesetzt werden können. Kennen Sie Schüler, die Noten nicht lernen sondern abzählen? Oder welche, die Griffe immer wieder vergessen? Oder kennen sie die Idee, das Auswendiglernen des Aufbaus der Kirchentonarten zu vermeiden, indem sie alles auf Dur zurückzählen (D-lydisch = A-Dur)?
Die Vermeidung des Beherrschens führt zu Verzögerungen. Da gespielte Musik jedoch eine zeitlich definierte Handlungssequenz ist, führen solche Verzögerungen zu Problemen und zwangsläufig zu Frust. Und zwar am Ende zu mehr Frust als dem des intensiven Paukens bzw. Übens.

Und Auswendiglernen muss gar nicht so anstrengend sein. Viele Menschen lernen schnell, wenn sie positive Emotionen mit dem Lerngegenstand verbinden. Das ist insofern problematisch, dass es gerade bei den wirklich wichtigen Inhalten schwer ist, echte positive Emotionen zu erzeugen. Deswegen muss noch nach anderen Wegen gesucht werden.
Ich verdeutliche das mal an einem Beispiel aus der Gitarrenlehrpraxis: Das Auswendiglernen des Griffbretts auf E- und A-Saite, also etwas, das man z.B. zur Ortung von verschiebbaren Akkorden benötigt.

Regel 1: Schritt für Schritt
Der Schüler lernt besser in Häppchen und vom Leichten zum Speziellen. Also erstmal nur die E-Saite einführen. Und erstmal nur die Stammtöne. Dann die A-Saite mit Stammtönen und erst später die durch Vorzeichen sich ergebenden Töne.

Regel 2: Andocken an Bekanntes
Der Schüler lernt schneller, wenn er das neue Wissen an bereits Bekanntes "andocken" kann. Das bereits bekannte sind in dem Fall die Zahlen. Nämlich die Zahlen der Bünde. Wenn ich abfrage, lasse ich mir immer Zahl und Tonnamen nennen. Oder ich frage nach dem Tonnamen in einem Bund oder umgekehrt nach dem Bund eines Tonnamens.

Regel 3: Muster/Metawissen/Querverbindungen aufzeigen
Wenn die E- und die A-Saite vorgestellt wurden, verweise ich auf die sich fast überall ergebenden Tonpaare auf E- und A-Saite, also z.B. A und D in der V. Lage. Solche Querverbindungen festigen das Wissen. Und das ist schon allein deswegen interessant, weil in der Praxis infolge des Quintfalls genau diese Grundtöne häufig nacheinander folgen. Man könnte das auch noch auf Nachbarschaftsverhältnisse auf einer Saite ausweiten: Wie heißen die Nachbartöne von A auf der E-Saite? Oder auch: Welche Töne sind nur einen Halbton voneinander entfernt?
    
Regel 4: Spiele, Aufgaben, Fragen, Tests, Experimente
Der Mensch spielt gern. Deswegen versuche ich mir so viel wie möglich Spiele und Aufgaben auszudenken, die eine abwechslungsreiche und unangestrengte Beschäftigung mit den Lerninhalten erfordern.

Regel 5: Wiederholung
Wenn etwas auswendig gelernt werden soll, dann nicht dazu, dass es wieder vergessen wird. Also muss es in Intervallen wiederholt werden. Mein Lehrplan sieht das eh vor. Der Schüler hat schon deswegen keine Chance zu vergessen, weil die Inhalte aufeinander aufbauen und immer wieder benötigt werden. Dennoch: Trauen Sie sich beharrlich zu sein!

Kurzum, es ist unrealistisch, auf Lernerfolge zu hoffen, die nicht auf dem Wege des Auswendiglernens entstehen. Sämtliche musikalische Leistungen basieren auf abrufbereiten und sicheren Mustern, Routinen und Informationen. Wer schnellt lernt und gut behält, wird auf lange Sicht nicht nur der bessere Musiker sein sondern eben auch der intelligentere Mensch.