Die 5 Wege des Lernens


Für mich gibt es 5 grundlegende Methoden des Übens bzw. Lernens, die man als Musiker in seiner eigenen Übepraxis oder als Lehrer in seiner Didaktik verwenden kann. Alle drei haben ihre jeweiligen Einsatzgebiete. Wer die Mechanismen kennt, kann sein Üben effektivieren.  

Wie übt man richtig? Auch hier gibt es bestimmt unzählige Wortmeldungen unter den Musikern und Musikpädagogen. Ich erlebe oft, dass sich gerade Erwachsene über Zeitmangel beklagen. "Ich konnte diese Woche nicht oder nur ganz wenig üben". Wie ich hier schon öfter erwähnt habe, bin ich die Gedanken darüber leid, ob und warum jemand nicht üben kann. Dann bleibt mir nur übrig, mit den Schülern im Unterricht zu üben. Das hat sogar Vorteile: Ich kann den Schülern erstens zeigen, wie effektives Üben geht. Zweitens sichere ich ab, dass sie nichts falsches lernen. Drittens erfahre ich etwas über die Wirksamkeit der Übemethoden und über die Lernpsychologie des Menschen. Für die Richtigkeit meiner Erkenntnisse ist das Üben zu Hause sogar nachteilig. Die nicht übenden Schüler befinden sich sozusagen in einer Laborsituation.

Das Musizieren auf einem Instrument besteht aus der Wiedergabe erlernter Bewegungsroutinen. Das Lernen besteht aus Informationsaufnahme und Vertiefung (durch Wiederholung). Wenn wir uns unser Gehirn wie ein Aufnahmegerät vorstellen, dann ist die Konzentration, die wir beim Lernen haben, vergleichbar mit der Qualität unserer Aufnahme. Die zum Lernen nötige Konzentration erhöht sich durch Faktoren wie Freude, Stressfreiheit, Angstfreiheit und Frustfreiheit sowie der Belohnungserwartung. Aber auch durch Druck (Autorität/Publikum). Dies gilt sowohl für Aufnahme neuer Informationen, als auch für die Vertiefung von Erlerntem. Den Zustand der absoluten Konzentration auf eine Sache nennt man auch "Flow"-Effekt. Dieser Zustand ist ideal für das Üben.
Ich sehe 5 Wege, wie man üben und lernen kann. Ich habe ihnen zum Spaß englische Namen gegeben - klingt überzeugend und modern ;-)

1. Slow Down

Das unschlagbare Rezept um beachtliche Dinge vollbringen zu können.  Der Ablauf der Bewegung und der Steuerprozesse wird so weit in der Geschwindigkeit verringert, dass er schon beim ersten Mal richtig ausgeführt werden kann. Das Gehirn ist äußerst dankbar für Stressfreiheit und belohnt den Zustand der beschaulichen Wahrnehmung mit einem hohen Maß an Aufnahmefähigkeit. Eine über die Anzahl der Wiederholungen eingeübte Routine kann schließlich nach ein paar Tagen und Nächten immer schneller und immer unkonzentrierter ausgeführt werden.

So einfach und logisch dieses Prinzip auch erscheint, intuitiv macht es der Mensch eher anders. Intuitiv ist er ein Nachahmer. Er will Gezeigtes nachmachen. Und zwar möglichst sofort. Beim Musizieren funktioniert das aber eher schlecht. Ich sage immer: Es gibt nichts, was zu schwer ist, nur etwas, das zu schnell ist. Das Verlangsamen erfordert vom Schüler ein hohes Maß an Geduld, denn das Bedürfnis nach Klang wird infolge der verzerrten zeitlichen Wahrnehmung der Musik beim Langsamspielen nicht erfüllt. Der Schüler muss zunächst auf das klangliche Resultat warten. Ich sage dann aber immer, dass er darauf schon so lange gewartet hat, dass es jetzt auf die paar Tage auch nicht mehr ankommt ;-)
Um mal ein klassisches Beispiel herauszugreifen: Finger/Folk-Picking. Daran hat man erst in einer bestimmten Geschwindigkeit wirklich Spaß. Um aber tatsächlich irgendwann Spaß zu haben, muss man sehr geduldig und genau und langsam üben. Die gute Nachricht ist jedoch, dass die über die Routinierung gelernten Fähigkeiten bei allen ähnlich gearteten Stücken später bereits zur Verfügung stehen. Die meisten Routinen sind universal verwendbar. Ein mit dem "Slow-Down-Prinzip" erkämpfter Lernschritt ist manchmal sogar automatisch mit einer magischen Verbesserung in anderen Bereichen verbunden. Ich glaube manchmal, dass ich mich dadurch verbessern kann, einfachste Übungen der Schüler ganz langsam mitzuspielen. 

Umgedreht ist das Spielen an der Leistungsgrenze regelrecht gefährlich, weil man allzu schnell seine Ungenauigkeiten, den Stress und die Fehler kultiviert, anstatt die Qualität von Timing und Bewegung zu erhöhen. 
Dem Schüler speziell am Anfang die Langsamkeit anzugewöhnen ist schwer. Der Schüler will alles gleich können: Weil er ambitioniert ist oder weil er genial sein will oder weil er Angst hat, schlecht zu sein oder weil er ein Leben mit hohem Tempo lebt. Wenn Musikpädagogen das Prinzip der langsamen Beschaulichkeit, der Sorgfalt und der absoluten Stressfreiheit vermitteln können, dann könnten sie auch auf Rezept der Krankenkassen arbeiten - Modewort: Achtsamkeit. Dann nämlich haben sie die heilende Wirkung von Yoga oder ähnlichem vermittelt. Nur dass es beim Yoga niemanden gibt, der außer dem Yogi was davon hat. Das ist bei Musik anders. Musik macht auch denen Freude, die sie hören.
Verlangsamen, bewusst machen, Freude am Detail haben und geduldig wiederholen - wer das über einen längeren Zeitraum macht, wird immer einen Gewinn erzielen. Nicht nur beim Musizieren.

2. Easy Steps

Nun gut, man könnte sagen: Es gibt alltägliche Fähigkeiten, die wir nur in bestimmten Mindestgeschwindigkeiten tun können: Z.B. Fahrradfahren oder Sprechen. Auch beim Gitarrespielen gibt es Techniken, die umso schwerer oder gar unmöglich werden, je langsamer man sie ausführt: Z.B. Slides und Bendings. Demzufolge gibt es auch noch eine weitere Übeform, die eben genau nicht auf die Verlangsamung eines Prozesses abzielt, sondern auf die Vereinfachung. 
Meist handelt es sich um eine schrittweise Vereinfachung, oder - von unten gesehen - eine schrittweise Verkomplizierung. Ein leicht zu verstehendes Beispiel wäre ein Akkordschema, das man in der ersten Schwierigkeitsstufe erstmal nur mit Ganzen Noten, dann mit Halben und dann mit Vierteln usw. schrittweise erlernt. Der Vorteil der Vereinfachung liegt darin, dass die klangliche Erfahrung auf der jeweiligen Übestufe attraktiver ist, als wenn man z.B. die Akkordfolge im Zielrhythmus verlangsamt. Diese Übemethode hilft gerade bei der Liedbegleitung. Man kann ein Lied von Anfang an mitsingen.
Der Nachteil dieser Methode ist, dass für jede Übestufe ein eigener "Bewegungsfilm" im Gehirn erstellt werden muss. Die Routinen sind auf dem jeweiligen Niveau zwar einfach, dafür aber insgesamt zahlreicher.
Im Melodiespiel wären Vereinfachungen z.B. durch das Weglassen von Verzierungen möglich. Wobei man auch da bemerken muss, dass man Gefahr läuft, in gewisser Weise mehrfach zu üben. Das kann insofern problematisch sein, dass das Gehirn an bestimmten Stellen ungewiss ist, welcher Ablauf zu welcher Übevariante gehört. Das kann sich in unerklärlichen Fehlern äußern. Und manchmal gehört zu einer bestimmten Technik ein bestimmter Fingersatz, der anders ausgeführt, keinen Sinn macht.
Es ist am Ende  eine Frage der Abwägung, ob das Mittel der Vereinfachung zur Effektivität beiträgt oder eher nicht. Musikpädagogisch wird es von mir gern zur Motivation eingesetzt. Es steigert die Motivation, wenn der klangliche Erfolg in Bezug auf Zielgeschwindigkeiten von Anfang an da ist. Lieber auf einem niedrigeren Level perfekt, als auf einem höheren Level fehlerhaft und klanglich unbefriedigend.
Das Klettern auf Stufen scheint zudem einen gewisses Ehrgeizbonus heraus zu kitzeln. Der Schüler freut sich über den kleinen Schritt genauso wie über den großen. Das Einrichten von Schwierigkeitsstufen ist wie eine Treppe, die einen großen unüberwindbaren Höhenunterschied in mehrere kleine überwindbare aufteilt.

3. Compression

Schwierigkeiten sind gerade über längere Stücke gesehen meist nicht gleichmäßig verteilt. Oft sind es ein paar Stellen, die Probleme bereiten. Oft kann man die Probleme klar benennen. Wegen ein paar Stellen ein ganzes Stück ganz langsam zu spielen, macht keinen Sinn. Es gibt zwei Möglichkeiten, das Üben zu komprimieren. Entweder man übt Ausschnitte - meist in Taktschleifen - oder man denkt sich kleine Übungen aus, die die Schwierigkeit einer oder mehrerer Stellen auf kleinem Raum zusammenfassen. 
Die erste Form ist sehr geläufig, aber eben auch mit einem klassischen Problem behaftet, das wohl jeder Musiker kennt: Man übt eine Stelle und sie klappt. Dann spielt man das ganze Stück und die Stelle klappt plötzlich wieder genauso wenig wie vorher. Der Grund liegt hier m.E. in den Verknüpfungsmechanismen unseres Gehirns. Wir müssen uns die einzeln geübte Stelle wie eine neue Datei auf unserer imaginären Gehirn-Festplatte vorstellen. Diese neue Datei muss sozusagen in das Projekt neu eingebunden werden, denn im Projekt wird noch die alte fehlerhafte Datei verwendet. Diese Verknüpfung passiert über einen "Ping", der rechtzeitig vor jener Stelle im Kopf gesetzt werden muss. Wir müssen während des Spielens daran denken, die neue Datei aufzurufen, das mehrfach wiederholen und erst dann ist tatsächlich der Erfolg zu beobachten.
Wenn der Schüler z.B. eine neue Technik oder einen neuen Akkord erlernt, dann bieten sich immer komprimierte Vorübungen an, in denen der Schüler seine ganze Konzentration nur auf das Problem richten kann. Er darf nicht zusätzlich durch andere musikalische Linien abgelenkt werden. Man kann seine Konzentration nicht auf mehrere Dinge gleichzeitig lenken. Einen schwierigen Rhythmus lernt man besser, wenn man die Akkordwechsel weg lässt. Akkordwechsel lernt man besser mit einfachem Rhythmus. Mit kleinen Spezialübungen kann man zudem die Übedichte - also die Anzahl richtiger Wiederholungen - erhöhen. Statt aller 4 Takte den Akkord zu wechseln, wechselt man auf jedem Viertel o.ä..
Wenn ich aus Erfahrung die Problemstellen eines Stückes kenne, lasse ich komprimierte Übungen mit diesen Stellen schon üben, bevor das Stück überhaupt in Angriff genommen wird. Der Vorlauf lässt diese Stellen dann wiederum nicht so schwer erscheinen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Angst mit diesen Stellen verbunden wird, ist damit geringer und das ist immer von Vorteil.

4. Just do it
 
Das könnte man übersetzen mit: "Egal wie Du es machst, Hauptsache Du machst es.". Es gibt Menschen, die Probleme haben, strukturiert zu lernen. Ihnen liegt es mehr, selber Entdeckungen zu machen. Im Gitarrenunterricht sind das recht anstrengende Schüler. Aber in der Praxis setzen sich diese Macher meist besser durch. Es einfach irgendwie zu machen, ist ineffektiv. Aber viele Musiker üben die meiste Zeit nicht effektiv, sie werden aber  trotzdem besser. Sie spielen das, was sie sowieso schon können bzw. spielen etwas, das sie eigentlich nicht können, so, als ob sie es könnten. Oder sie improvisieren und experimentieren, ohne sich dabei um die Wirksamkeit des Übens zu kümmern. Dies trifft vor allem auf Autodidakten zu. 
Diese Art des Übens ist bezogen auf die Übezeit sehr ineffektiv. Da aber dieses Üben immer mit Lust und Freude verbunden ist, wird es oft und lange gemacht - und zeigt deswegen Resultate. Für den Fortschritt ist hierbei die Anzahl sehr vieler Wiederholungen verantwortlich, verbunden mit dabei zufällig auftretenden Veränderungen, die sich als Verbesserung herausstellen. Im Grunde ist das eine Analogie zum Try-and-Error-Prinzip der Evolution in der Natur.

5. Pressure

Mir ist an mir selber aufgefallen, dass Belastungsproben wie Aufnahmen oder Konzerte oft im Nachhinein zu einem fühlbaren Fortschritt führen. Der Druck, eine bestimmte Leistung abzurufen, schafft Konzentration. Diese Konzentration wirkt wie ein Aufnahmeverstärker (s.o.) und zeigt Wirkung, sofern die erforderliche Leistung halbwegs richtig ausgeführt wird und die eigene Leistungsfähigkeit nicht deutlich übersteigt.

Wie jeder Gitarrenlehrer habe ich wie gesagt Schüler, die zu Hause kaum bis gar nicht üben. Wenn ich mit diesen Schülern im Unterricht übe, dann verstärkt meine Anwesenheit den Druck und schafft damit mehr Konzentration.
Ich habe auch Schüler, die einen großen Unterschied beklagen zwischen dem , was sie zu Hause schon können, und dem, was sie im Unterricht zustande bringen. Diesen Schülern empfehle ich, mir zur nächsten Stunde ein mit dem Smartphone aufgenommenes Überesultat mitzubringen. Ich erwarte dabei folgende Wirkung: Die Konzentration bei der Aufnahme führt zur Übeeffektverstärkung. Sehr wahrscheinlich kann der Schüler dann auch im Unterricht genau jene Leistung abrufen. Natürlich auch im beruhigenden Wissen, den Beweis schon vorher erbracht zu haben - aber dennoch: Das Aufnehmen ist eine Form des effektiven Lernens, denn es verstärkt die Konzentration.
Und prinzipiell lädt diese Form des Lernens dazu ein, so viele Bewährungssituationen zu suchen wie nur möglich: Spielen, spielen, nochmals spielen.  


Ich denke, man kann in seiner Unterrichts- und Lehrplangestaltung mit diesen 5 Lernmethoden  kreativ umgehen. Jede Methode hat Vor- und Nachteile und ideale Anwendungsgebiete. Jeder Schüler hat, meist als Bestandteil seines Charakters bevorzugte Lernmethoden. Dennoch sollten die 5 Wege jedem Schüler nahe gebracht werden. 




Was ist musikalisches Talent?

Bin ich musikalisch talentiert? Die Frage stellen sich viele bereits, bevor sie mit dem Gitarrelernen beginnen. Doch was ist eigentlich genau das musikalische Talent? Ich bin der Meinung, dass es DAS musikalische Talent gar nicht gibt, sondern Teilbegabungen bzw. Eigenschaften, die sich zu einer mehr oder weniger günstigen Mischung vereinigen.  

Auch diesem Beitrag muss ich voranstellen, dass mir für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema "Musikalisches Talent" die Zeit und die Lust fehlen, selbstverständlich auch der Sachverstand. Ich spreche nur aus Erfahrung - in Verbindung mit ein wenig Denkarbeit.
Es gibt nicht DAS Musiktalent. Schon allein weil es auch nicht DIE Musik gibt. Das Musizieren und das erfolgreiche Musizieren vor Publikum ist ein Prozess, der sich aus vielen Aspekten zusammensetzt. All diese Aspekte erfordern spezifische Fähigkeiten und Eigenschaften. Von einer Begabung spricht man, wenn einerseits bestimmte Fähigkeiten bereits vorhanden sind oder wenn andererseits eine überdurchschnittliche Lerngeschwindigkeit in Bezug auf diese Fähigkeiten vorhanden ist. Das erste ist in vielen Fällen die Folge des zweiten, aber es gibt halt auch Fähigkeiten, die auf angeborenen Faktoren beruhen.
Ich habe insgesamt 10 Talente herausgefunden, die sich in Summe auf den Erfolg einer musikalischen Ausbildung bzw. eine Karriere auswirken. Ich gebe diesen Talenten keine Gewichtung, denn Defizite in dem einen oder anderen Bereich können kompensiert werden. Die Reihenfolge ist willkürlich festgelegt.

Gehör - Klangvorstellung - Intonation

Einerseits ist das Gehör trainierbar. Andererseits gibt es Menschen, die von Natur aus entweder ein sehr feines Gehör besitzen bzw. starke Assoziationsmechanismen, die ein besseres akustisches Gedächtnis ermöglichen. Ein absolutes Gehör ist die Folge eines guten Klanggedächtnisses. Akustische Reize prägen sich stark ein und vereinfachen nicht nur die Reproduktion von Gehörtem sondern auch die Identifikation und Beurteilung von Klängen. Dies wiederum wirkt sich positiv auf die Klangerzeugung und die Intonation aus. 
Viele Hobbymusiker hören ihre Fehler nicht und können sie daher von selbst nicht abstellen. Menschen mit einem guten Gehör produzieren einen guten Klang, denn schlechter Klang tut ihnen weh. Dennoch ist das Gehör kein Allheilmittel, so wie es speziell in der klassischen Musik manchmal dargestellt wird.

Rhythmusgefühl - Klangvorstellung - Timing

Meiner Meinung nach wird Rhythmusgefühl in der gegenwärtigen Musikausbildung untergewichtet. Jeder Musiker ist für mich ein Schlagzeuger, nur dass er mit Fingern trommelt. Unsere klassische Kunstmusiktradition hat uns auf eine falsche Fährte gelockt. Sie suggeriert, dass Timing nicht so wichtig wie Klang ist. Und das ist möglicherweise so, weil sich die Kunstmusik zur "Sitz- und Hörmusik" entwickelt hat, die auf einen passiven Zuhörer setzt. Das ist keine Wertung, aber in Bezug auf die musikalische Ausbildung ist für mich Rhythmus das Thema Nummer 1. 
Wenn wir es ganz genau nehmen, ist jeder Klang letztlich auch nur der Rhythmus einer Amplitude. Ich behaupte, dass rhythmische Muster einer Klangvorstellung bedürfen, die in unserem Sprachzentrum angesiedelt ist. Rhythmus wird mit Bewegung erzeugt, aber genau wie Sprache in die Zukunft gedacht. Rhythmus hat etwas mit der Gegenwartserfahrung zu tun. Rhythmusgefühl bedeutet einerseits, eine Vorstellung von einer rhythmischen Abfolge zu haben, so wie man eine Vorstellung von der Aussprache eines Wortes hat - und zum anderen bedeutet es, seine Bewegungen soweit zu lockern, dass der Körper in die Schwingung eines Timings gerät. Also in Resonanz.
Wer ein gutes Rhythmusgefühl besitzt oder erwirbt, kann mit Worten, Geräuschen oder mit einem Fingerschnipsen Musik machen.

Feinmotorik - Schnelligkeit - Virtuosität

In der Spitze sind Musiker meist Virtuosen. Virtuosität ist mehr als nur Schnelligkeit, aber ich denke, dass es genauso wie im Sport Menschen gibt, die bestimmte Bewegungsabläufe schneller und genauer ausführen können als andere. Hierbei spielt die Abspeicherung von Bewegungsroutinen eine Rolle sowie die körperlichen (nervlichen) Voraussetzungen für schnelle und genaue Bewegungen. 
Ich wette, dass ein Sprinter eine motorische Begabung hat, die er auch auf einem Instrument ausleben könnte. Denn beim Sprint entscheiden nicht allein die Muskeln über den Sieg sondern der optimale Bewegungsablauf, welcher dann eine maximale Wiederholungsrate ermöglicht.
Man kann ohne jegliche Begabung in puncto Gehör oder Rhythmus schnelle Läufe auf der Gitarre spielen. Ich habe das bei Rockgitarristen öfter beobachtet.

Ausdruck - Emotion - Charisma - Imitation

Es gibt Menschen, die verfügen über eine überdurchschnittlich starke Fähigkeit, andere Menschen in ihren Bann zu ziehen. Zum einen gehört dazu eine Portion der sogenannten emotionalen Intelligenz dazu. Gemeint ist die Fähigkeit, die eigene Wirkung auf andere sowie deren Gefühle in Situationen einschätzen zu können. Zum anderen gehört dazu die Fähigkeit zur Ausdrucksstärke. Man könnte von einem schauspielerischen Talent sprechen. Musik hat immer etwas mit Emotionen zu tun. Ein Klang allein wirkt emotional. Wer allerdings gut in der Lage ist, die Emotionalität eines Klanges zu unterstreichen, sei es mit musikalischen oder theatralischen Mitteln, der kann Leute mehr begeistern als ein nüchterner Darbieter der allerhöchsten Kunstfertigkeit..

Kreativität - Individualität - Originalität - Fantasie

Und es gibt Menschen, die einen überdurchschnittlichen Sinn für Außergewöhnliches haben. Sie sind anders als andere, meist weil sie anders sein und sich abheben  wollen. Das ist sicher verbunden mit dem Wunsch nach Aufmerksamkeit aber eben auch mit der Gefahr Missgunst zu ernten. Manche können nicht anders, manche wollen nicht anders. Um in der sehr reichen Musikwelt aufzufallen, scheint diese Begabung von Vorteil zu sein. Kreativität heißt, neues zu schaffen. Nirgendwo ist das Neue so wichtig wie in der Popmusik. Neu heißt dabei immer auch "anders". Nicht völlig anders, aber eben individuell bzw. originell. Ein Musiker, der Dinge anders macht als andere und der eigensinnig und fantasievoll ist, hat einen großen Vorteil. Manche Künstler möchten auf Brücken laufen, die hinter ihnen einstürzen, damit ihnen niemand folgen kann.

Intelligenz - Gedächtnis - Kombination - Rekombination

Als Lehrer weiß man, dass Kinder mit schlechteren schulischen Leistungen meist auch schlechtere musikschulische Leistungen haben. Es gibt hier Ausnahmen, speziell wenn schlechte schulische Leistungen ihre Ursache nicht in mangelnder Intelligenz haben. Es gibt aber (leider) den Zusammenhang zwischen Intelligenz, Elternhaus und musikalischer Leistung. Für viele Anforderungen beim Musizieren brauchen wir ein halbwegs gutes Gedächtnis. Es hilft ungemein, wenn man sich Notennamen, Griffe, Skalen, Formen usw. schnell und gut merken kann. Es hilft, wenn man Schemen, logische Zusammenhänge und Komplexität schneller erkennt.   
Angeblich gibt es den Effekt, dass Musik die Intelligenz erhöht. Meiner Meinung hängt das damit zusammen, dass Musik die Intelligenz fordert.

Leidenschaft - Lust - Freude - Motivation 

Ich hatte eingangs erwähnt, dass es keine Gewichtung in den Talentaspekten gibt, aber hier würde ich dann doch sagen: Die Leidenschaft und die Freude an der Musik ist der Faktor, der vielleicht am meisten über die musikalische Leistungsfähigkeit entscheidet. Warum? Mit Leidenschaft und Freude wird man sämtliche Defizite in den anderen Bereichen reduzieren können. Weil man durch Lust und Motivation am Ball bleibt und die Qualität Stück für Stück größer wird. Wer keine besonders große Freude am Musizieren empfindet, kann begabt sein, wie er will - ihm wird die nötige Praxis fehlen. Mein Lehrer hat gesagt: Schweißer wird man vom Schweißen. Pat Metheny hat gesagt, dass ein guter Musiker irgendwann Zeiten gehabt haben muss, in denen er 7 Stunden am Tag gespielt hat. Ohne außerordentliche Freude am Klang macht man das nicht. 

Fleiß - Ehrfurcht - Geduld - Disziplin


So sehr die Lust und die Leidenschaft zum Musizieren notwendig ist: Es gibt viele Momente im Leben des ambitionierten Musikers, wo Frust einkehrt und das schnelle menschliche Belohnungssystem zur Motivation nicht ausreicht. Hier sind Primärtugenden wie Fleiß und Disziplin gefragt. Genau in diesen Phasen steigen viele durchaus fähige Musiker aus. Schüler hören auf zu üben. Eine Abwärtsspirale kommt in Gang, in der mangelnde Erfolgserlebnisse die Lust verringern. Wie heißt es immer: Das Talent ist die 1 und der Fleiß sind die Nullen dahinter. Ich bezeichne Fleiß ebenfalls als Talent, denn nachgewiesenermaßen gibt es Menschen, denen es besser als anderen gelingt, das Belohnungssystem a la long zu stellen und Dinge zu tun, von denen erst langfristig eine Belohnung zu erwarten ist. Zusätzlich habe ich unter diesem Punkt noch das Wort Ehrfurcht als Synonym für die Anerkennung von Autoritäten genannt. Nicht immer, aber oft zahlt es sich aus, den Rat von Leuten zu befolgen, die vieles besser wissen als man selbst. 

Schicksal - Psyche - Kompensation 


Ein Ansporn unseres Tuns liegt durchaus in der Absicht, geliebt, geehrt und geachtet zu werden. Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen ein Problem mit mangelnder Liebe, Selbstliebe oder Selbstwertgefühl haben, haben unter Umständen ein Talent zur Kompensation. Das heißt, dass sie sich Tätigkeiten suchen, mit denen sie ihr Selbstwertgefühl steigern können bzw. dass sie sich Tätigkeiten suchen, in denen sie ein Gefühl von Glück finden, das ihnen im normalen Leben verwehrt ist. Für viele Künstler waren psychische und biografische Probleme ausschlaggebend für ihre ganz besondere Anstrengung und Vertiefung in die jeweilige Materie. Kunst, und hier Musik im Besonderen, wird nicht umsonst als Therapieform genutzt. Kunst ist ein Rückzugsgebiet für Menschen, denen das Glück auf normalem Wege nicht recht gelingen mag. Beziehungsprobleme, Verhaltensprobleme und Anomalien schaffen eine gewisse Isolation, die dazu führen kann, viel Zeit mit sich und der Kunst zu verbringen. 

Menschliche Reife - Tugend

Dieser Punkt ist mir erst eingefallen, als ich dachte, dass es nur 9 Talente gibt. Menschliche Reife ist kein Talent, sondern eigentlich nur mit Lebenserfahrung zu erreichen. Es gibt aber junge Menschen, die auf ihre Art äußerst ausgeglichen und beinahe weise erscheinen. Kinder mit außergewöhnlichen musikalischen Leistungen wirken oft viel reifer als ihre Altersgenossen. Sie interessieren sich für andere Dinge als Gleichaltrige. Das Bild vom kaspernden Mozart ist eine Verzerrung. 
Dennoch interessieren mich die Darbietungen von Kinderstars kaum, auch wenn ich oft staune. Eine Meisterleistung baut für mich auf einem menschlichen Reifeprozess auf. Große Künstler benötigen Lebenserfahrung, die sie tugendhaft und reif werden lässt. Musik ist Informations- und Energieübertragung. Wer in seinem Leben keine Erkenntnis gewinnt, der wird auch wenig übertragen können. Manche Kinderstars reifen nicht aus, weil ihr Lebensweg ganz anders verläuft, als es für einen echten Meister nötig ist. Sie werden früh  verheizt. Sie geraten in zu schwere Krisen. Ihr Innenleben hinkt ihren musikalischen Laufbahn hinterher und fordert irgendwann seinen Preis.


Man erlebt häufig, dass die als große Talente gehandelten Musiker meist in allen Disziplinen ähnlich begabt sind. Dies ist der Grund, warum viele das musikalische Talent für eine Art Monolith halten. Tatsächlich aber wird jeder Musiker in den 10 genannten Punkten etwas finden, das bei ihm nicht oder nur wenig zutrifft.
Viele Menschen werden entmutigt zu musizieren, weil ihnen andere das Talent absprechen, obwohl sie gar nicht wissen, wovon sie genau reden. Der pauschale Verweis auf das musikalische Talent ist mit der Unfähigkeit verbunden, ein präzises Urteil abzugeben - sowohl positiv als auch negativ.