Gitarre lernen mit Liedern

Ihre Schüler hören (sogenannte) Unterhaltungsmusik, welche fast nur die Liedform kennt. Allein das reicht, um dem Lied die zentrale Bedeutung im Unterricht zukommen zu lassen. Und außerdem: ... "böse Menschen kennen keine Lieder". 

Ich habe am Beginn meiner pädagogischen Tätigkeit auf Amateur-Gitarrenlehrer - na, sagen wir mal - bisschen herab geschaut. Vor allem, wenn ihr Unterricht eher aus Lagerfeuer-Schrammel-Songs bestand. Das hat sich mit der Zeit geändert, denn ich verstand, wie wichtig die Wahl der Lerngegenstände für den Lernerfolg ist.

Wenn im folgenden von Liedern die Rede ist, dann meine ich Stücke, die:
1. Melodie und Harmonie besitzen und in einem Leadsheet notierbar sind, sowie
2. sangbar sind und einen Text haben, und
3. breit publiziert wurden und damit zumindest theoretisch bekannt sein könnten.

Somit unterscheiden sich diese Lieder von anderen Stücken wie Instrumentals (Leadsheet), Übungen, Werken und Eigenkompositionen. Selbstverständlich unterscheiden sie sich auch von "Nicht-Werken" wie Riffs, Licks, Pattern usw.. Und heutzutage muss man auch dazusagen, dass sie sich auch von "Tracks" unterscheiden, also von Titeln, die mit Gitarre und Singstimme nicht oder nur schlecht wiederzugeben sind.
"Lieder spielen" heißt bei mir, dass der Schüler ein Lied mindestens rhythmisch begleiten kann. Bei manchen Liedern eignen sich Intros, Zwischenspiele oder prägnante Melodien dazu, für die Gitarre und das Niveau des Schüler arrangiert zu werden. Den Anteil meiner Schüler, die zu ihrer Begleitung am Ende selber singen, würde ich auf  5 Prozent schätzen. Was nichts daran ändert, dass für die verbleibenden 95 Prozent das Begleiten die mit Abstand häufigste Art der Musizierens bleibt.
Und Lieder in ihrer klassischen Form mit Intro, Strophe, Refrain usw. sind die am häufigsten gehörte und praktizierte Form von Musik. Daran ändern auch die neu hinzu gekommenen Arten des Musikkonsums nichts. Nicht nur die Form, auch die Länge der Stücke weicht von gewissen Standardwerten kaum ab. Selbst die Titel einer Metal-Band lassen sich als Songs einstufen. 

Um zu verdeutlichen, was die Vorteile von Liedern als Unterrichtsgegenstand sind, habe ich eine Einteilung nach Eigenschaften der Lieder vorgenommen.

Lieder, die der Schüler kennt, weil sie praktisch jeder kennt

Wenn ein Schüler ein Lied bereits kennt, dann ist das immer ein Vorteil. Sicher mit Abstrichen, sofern er das Lied hasst. Aber selbst, wenn er das Lied nicht sonderlich mag, mag er es meist mehr, wenn er es spielen kann. Es ist eher eine Charakterfrage, ob der Schüler seine persönliche Meinung zu einem Lied  über mein pädagogischen Interesse stellt und sich verweigert. Das passiert meist nur bei Schülern, bei denen eh immer wieder Sachen passieren, die den pädagogischen Prozess erschweren. Siehe: Die Schülertypen.
Bei jungen Schülern kann man in der Regel auf die Kenntnis der aktuellen Songs mit Airplay bauen. Wobei hier der Trend weg vom Radio, hin zu "blasenbildenden" Medien wie Spotify oder Youtube geht. Bei Erwachsenen müssen es bei aktuellen Titeln eher die ganz großen Nummern sein, also solche, die einen gewissen Volkslied-Status erreicht haben. Ich nenne mal: "An Tagen wie diesen", "Die immer lacht" oder "Atemlos". Erwachsene Schüler können aufgrund ihrer längeren Hörerfahrungen auch mit den bekanntesten Oldies etwas anfangen. Was ich am häufigsten höre, wenn ich ein Lied anspiele: "Ja, hab ich schon mal gehört".

Lieder, die der Schüler nicht kennt, die aber gut sind

Wann ist ein Lied gut? Es ließen sich theoretische Abhandlungen verfassen, welche Eigenschaften ein Lied zu einem "guten Lied" machen. Das können wir uns sparen, denn gute Lieder behaupten sich in ihrer Zeit als Hits und über die Zeit hinaus als Oldies. Für jüngere Schüler sind fast alle Lieder Oldies, denn, wie ich oben schon andeutete, sind sangbare, reproduzierbare Lieder mit Text, Melodie und Harmonie heutzutage nicht mehr der Regelfall in den Charts. Somit ist es schwieriger geworden, den jungen Schülern stets Lieder anzubieten, die sie kennen. Zum Glück gibt es Evergreens, die so schnell Eingang in die Ohren der Kids finden, dass sie nach wie vor allseits bekannt und beliebt sind. "Life is live" ist so ein Titel. In der Klassik gibt es das auch, ich sage nur "Für Elise". Man kann sich drauf verlassen, dass man mit einem Titel der Beatles, von ABBA oder Madonna nicht auf Widerstand sondern auf Interesse, Freude und sogar Liebe stößt.
Ich denke, dass sich der Geschmack der Menschen nicht grundlegend ändert. Zumindest weniger, als man das beim Anblick der Entwicklung der Musikwelt glauben würde. Das Gute wird auch von jungen Menschen wieder entdeckt. Man muss nur verstehen, dass junge Menschen in und mit ihrer Zeit leben wollen und nicht (wie alte Menschen) auf die gute alte Zeit schauen wollen. Wer will schon wie in einem Museum leben, in dem man nichts anfassen darf. Das gilt für den einen mehr und für den anderen weniger. Es geht im Unterricht nicht darum, die Musizierpraxis zu bestimmen, es geht darum, etwas zu lernen. Ein Weg dahin ist die Geschmacksbildung durch gute Lieder, die man nicht unbedingt vorher schon kennen muss.

Lieder, die der Schüler liebt

Die Mitsprache des Schülers bei der Auswahl von Unterrichtsstoff ist mir wichtig, auch wenn ich sie nicht für entscheidend halte. Gelegentlich, nicht allzu oft, passiert es, dass der Schüler darum bittet, ein bestimmtes Lied im Gitarrenunterricht zu behandeln, weil er es liebt. Das ist eine gute Motivation. Aber wie oben schon erwähnt, kann er es selbst nicht singen, erst recht nicht, wenn er dazu Gitarre spielen soll. Das ist insofern ein Problem, dass eine bloße rhythmische Begleitung klanglich unbefriedigend ist, noch dazu, wenn sie meistens etwas vereinfacht und für einfache Rhythmusgitarre eingerichtet werden muss. Neben diesem Aufwand, müsste der Lehrer das Lied singen lernen, falls er es nicht zufälligerweise schon kann. Alternativ könnte man das Original als Playback verwenden, allerdings ist die Arbeit am Stück ohne Playback im Unterricht wesentlich einfacher. ich wäge hier tatsächlich ab, ob der Aufwand den erwarteten Nutzen nicht übersteigt. Ich scheue den Aufwand nicht,  wenn ich vermute, dass auch andere dieses Lied mögen könnten.

Lieder, die besonders einfach sind

Für jeden Musiker gilt die Weisheit, dass man lieber einfache Dinge gut spielen sollte, als schwierige Dinge schlecht.
Gerade im Volkslied-Bereich gibt es so einfach strukturierte Formen, dass sie beinahe nebenbei vermittelt und schnell (vom Blatt) umgesetzt werden können. Schüler sind dankbar für alles, das mühelos praktikabel ist. Und wenn es noch so einfach ist - der Schüler wird es als gute Leistung empfinden, ein Lied vom Blatt begleiten zu können.
und es gibt noch einen eigenartigen Effekt, den ich unter dieser Überschrift erwähnen möchte:
Man könnte denken, dass ein erfahrener Spieler die Schwierigkeit von Stücken gut einschätzen kann. Manchmal aber scheint ein Lied auf beinahe wundersame Weise den Schülern zuzufliegen, obwohl ich es als schwierig eingestuft hätte. Im Laufe der Zeit sammelt man solche Erfahrungen. 

Lieder, die ein gutes Beispiel für eine bestimmte Sache sind

Ich bin der Meinung, dass sich Systematik im Lernprozess auszahlt. Ein Mindestmaß an Ordnung und Struktur im Kopf des Schülers hilft ihm, sich selbstständig in der praktischen Musikwelt zurecht zu finden. Deswegen versuche ich meinen Lehrplan so logisch und konsistent wie möglich aufzubauen. Lieder liefern mir einerseits Anhaltspunkte für die wichtigen Lerninhalte, und andererseits gute Beispiele. Wenn ich die I-IV-V-Kadenz behandle, dann brauche ich gute, gängige  Lieder, in denen nur diese Akkorde vorkommen. Je bekannter und fetziger der Song ist, umso freudiger nimmt der Schüler zur Kenntnis, dass ihm das neue Wissen nützt. Und nicht nur das: Bei einer guten Mischung aus Theorie und Praxis machen die Schüler die beruhigende Entdeckung, dass vieles gar nicht so kompliziert ist, wie sie vorher angenommen haben.

Lieder mit Trust

Mit "Trust" meine ich in etwa das Vertrauen in eine Marke, z.B.: "Wenn ein Lied von dem oder dem ist, dann muss es gut sein und dann ist es gut, dass ich es kennen lerne". Mir geht es manchmal so, dass ich Lieder jahrelang nur vom Titelnamen kannte, bis ich sie irgendwann zuordnen konnte. Der Titelname ist zur Marke geworden. Manche Schüler, vor allem ältere, vertrauen allein auf eine Stilrichtung, oder lehnen umgedreht bestimmte Stilrichtungen kategorisch ab. Ja, und manchmal ist die geografische Herkunft oder die Entstehungszeit etwas, an dem sich Begeisterung oder Frust für ein Lied fest machen lassen.   

Lieder mit Inhalt

Speziell bei Kindern bis 12 Jahren spielt der Text eine nicht ganz unwesentliche Rolle bei der Bewertung von Liedern. Erzählt der Text eine Geschichte, am besten eine lustige, dann sind Kinder eher bereit, sich dem Song zuzuwenden.
Der gleiche Effekt lässt sich bei Erwachsenen beobachten, z.B. bei Liedern von Liedermachern. manchmal kann es sogar sein, dass der Wunsch Gitarre zu lernen in der Verehrung von Liedermachern/Singer/Songwritern begründet ist, denn diese sind ja oft auf der Gitarre "zu Hause".
An anderer Stelle habe ich schon einmal bemerkt, dass Musiker, insbesondere Instrumentalmusiker die Bedeutung des Textes für den Zuhörer unterschätzen. Manchmal unterschätzt ihn der Zuhörer vielleicht selber. Mir passiert es häufig, dass in einem beliebigen Zusammenhang ein bestimmtes Schlüsselwort einen zugehörigen Ohrwurm auslöst. Beispiel: Ich stehe am Meer, betrachte den Horizont und mir fällt ein: "Hinter dem Horizont". Dieser Mechanismus verdeutlicht, dass ein Lied mehr ist als nur Musik.

Das einzige Problem wäre, wenn Sie als Lehrer nicht singen wollen oder schlimmstenfalls können. Mir ging es am Anfang ähnlich und ich habe mich sozusagen mit Instrumentalstücken darum herum gedrückt. Aber ich glaube, dass ich durch das Singen meinen Unterricht und vielleicht sogar das Verhältnis zu den Schülern verbessert habe. Denn von jedem singenden Menschen geht eine freundliche Wirkung aus.

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