Unglaublich "guter" Musikunterricht an Schulen

In Sachsen wird über die Kürzung des Musikunterrichtes an Schulen diskutiert. Ich bin dafür, die Stundenanzahl beizubehalten, aber den Lehrplan zu kürzen. Der Musikunterricht steht vermutlich exemplarisch für ein Schein-Niveau der Schülerleistung, speziell in der höheren Bildung. 

Durch meine Gitarrenschüler und auch durch meine Kinder komme ich mit dem Schulunterricht im Fach Musik in Berührung. Drei bemerkenswerte Dinge fallen mir in den Schilderungen auf. 
1. Es findet wenig oder schlimmstenfalls gar kein Musikunterricht statt weil Lehrer fehlen. 
2. Es wird wenig und in höheren Klassen gar nicht mehr gesungen. Wenn gesungen wird, dann Lieder, von denen ich mir nicht vorstellen kann, dass sie wirklich gemeinsam gesungen werden können. 
3. An Gymnasien scheinen manche Musiklehrer extrem ambitioniert zu sein, denn sie haben Lehrplaninhalte, bei denen ich als Musikpädagoge mit Lehrpraxis aufhorche.

Zu 1.: Lehrermangel ist in Sachsen ein generelles Thema, das ich hier nicht erörtere.

Zu 2.: An anderer Stelle habe ich darauf hingewiesen, wie wichtig ich das (gemeinsame) Singen finde zur Ausbildung grundmusikalischer Fähigkeiten wie Rhythmusgefühl, Tongedächtnis und Gehör. Das Grundproblem ist relativ schnell umrissen. Durchgängig gut singbare Lieder mit halbwegs zeitgenössischem Bezug sind Mangelware.  Popsongs der letzten 30 Jahre sind oft mit rezitativen Gesangsparts und schwieriger Rhythmik durchzogen, so dass ein annehmbares gemeinschaftliches musikalisches Erlebnis am Ende ausbleibt. Bei choralen Volksliedern stört der Text. Oldies haben nun auch schon 50 Jahre und mehr auf dem Buckel. Diejenigen, die deren Geist glaubhaft vermitteln können, gehen bald in Rente.

Doch um dieses Thema geht es mir nur am Rande. Es wird heutzutage deutlich weniger gesungen als vor hundert Jahren. Für diese Erkenntnis braucht es keine Studien. Die Folgen sind unter anderem ein sinkendes Einstiegsniveau im Instrumentalunterricht. Das bekomme ich mit und das bestätigen mir meine Kollegen.

zu 3.: Umso erstaunlicher ist es aber, dass die praktischen  Inhalte des Musikunterrichtes an Schulen von einer gegenteiligen Entwicklung künden. Folgende Inhalte wurden mir in letzter Zeit von mehreren Schulen in Dresden berichtet:

1. Lied Leistungskontrolle - Mark Forster "Sowieso" - 4.Klasse Grundschule.
2. Lied Leistungskontrolle - Prinzen "Alles nur geklaut" - 5.Klasse Gymnasium.
3. Lied Leistungskontrolle - Wir sind Helden "Denkmal" - 7.Klasse Gymnasium.
4. Rhythmus- und Melodiediktate - Leistungskontrolle - 8.Klasse Gymnasium.
5. Dreistimmigen Satz entwerfen - Leistungskontrolle - 9.Klasse Gymnasium.
6. Gitarrenkurs - Liedbegleitung - 8 UE - 9.Klasse Gymnasium.
7. Lied singen und an Keyboard oder Gitarre begleiten - Leistungskontrolle - 10.Klasse Gymnasium.

Hut ab vor diesen Musiklehrern! 
Nehmen wir mal den Gitarrenkurs als erstes Beispiel. Kann sein, dass es ein freiwilliges Projekt ist, ganz genau weiß ich es nicht mehr. Aber ich habe die Begleit-Unterlagen gesehen. Sie bestanden aus 4 zusammenkopierten Blättern. Auf einem waren 16 Gitarrengriffe drauf. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, liebe Gitarrenlehrer-Kollegen. Bei mir braucht ein Schüler im Durchschnitt ein Jahr, bis er die Grundakkorde der ersten Lage mit Achtel-Wechselschlag-Rhythmen sicher beherrscht und Lieder begleiten kann - in der Regel, ohne selber dazu zu singen. Denn es ist die Ausnahme, dass ein Schüler überhaupt die Neigung zum Mitsingen verspürt - zumindest im Unterricht. 
Was mache ich falsch? Woher kommen meine Schüler? Wie schafft das ein Schulmusiker in wenigen Unterrichtseinheiten? 

Schön auch das Beispiel, bei dem sich (wohlgemerkt alle) Schüler einer ganz normalen 10. Klasse selber beim Singen begleiten sollten. Das Lied war gleich noch mit Synkopen gespickt - sonst wäre es ja zu einfach ;-) Den Fall habe ich deshalb verfolgt, weil die betreffende Schülerin mit mir das Stück geübt hat - merklich empört über die Schwierigkeit der Aufgabenstellung. Zu recht, denn ich muss gestehen, dass auch ich hätte bisschen üben müssen, wenn ich jetzt in jener Klasse wäre. Ich bin allerdings Berufsmusiker und müsste es noch besser können als der betreffende Lehrer, der Schulmusik studiert hat. Was bitte verlangt denn da der Lehrer vom ganz normalen 16-jährigen Schüler?

Das Problem liegt meiner Meinung nach tiefer als man denkt. Ich habe vor einer Weile mal einen Artikel von einem sogenannten Quereinsteiger gelesen. Er war Chemiker, der an Gymnasien Chemie und Physik unterrichtete. Nach einer Weile quittierte er den Schuldienst wieder, weil er mit dem Lehrplansystem nicht mehr klar kam. Er konnte nicht verstehen, dass die Schüler in der Praxis kaum Holz von Plastik unterscheiden können, aber im Unterricht Stoff aus dem ersten Studienjahr Chemie pauken, und zwar so, dass alles nach 4 Wochen wieder vergessen war.

Ich glaube, dass das allgemeine Schneller-Höher-Weiter längst auch in der Bildung angekommen ist. Das wäre gar nicht so schlimm, wenn es tatsächlich schneller, höher oder weiter ginge. Ich behaupte aber, dass die Qualität der Ausbildung unter dem Wachstumsdruck leidet. 
Stellen wir uns einfach einen Hochsprung-Trainer vor, der vom Training wenig Ahnung hat, wohl aber davon, die Latte immer höher zu legen. Nicht die Pädagogik sondern die Methode "Druck" führt zur höheren Leistung. Anstatt die Leistungsfähigkeit gezielt und systematisch zu verbessern, werden primär die Anforderungen erhöht und wenn nötig, Auslese betrieben. Das Schulsystem lädt dazu regelrecht ein. "Wir sind hier am Gymnasium, da kann man sowas verlangen."

Das einzige Bestreben der Schüler ist es, irgendwie über die höher gesetzte Latte zu kommen. Das ist eine Verzerrung des Bildungsgedankens. Das wird sich meiner Meinung nach rächen. Zum Beispiel darin, dass sich Schüler überfordert fühlen. Oder darin, dass die Schüler nicht mehr wissen, was sie wirklich wissen und können, was wiederum zu Selbstwertproblemen führt. Die Leistung wird unerklärlich, beinahe magisch. Für den Überflieger in positiver Weise, für den normalen Schüler negativ als Angst. 

Und warum bitte sollte ein ganz normaler Schüler ohne musikalisches Interesse einen dreistimmigen Satz am Keyboard (auf Zensur) komponieren müssen?  Da könnte ich auch einen Musiklehrer dazu verdonnern, mein Auto zu reparieren. Auf Zensur - versteht sich.
Und hat Mark Forster seinen Erfolg dem Umstand zu verdanken, dass seine Lieder so super einfach sind, dass sie ein gewöhnlicher Viertklässler allein vor seiner Klasse darbieten kann. Ich glaube es nicht. Lügt sich da nicht jemand in die Tasche? Wie hält man das als Lehrer aus? Was kommt da  am Ende wirklich heraus? Hat der Schüler wirklich etwas gelernt oder hat er nur gelernt, so zu tun als ob er etwas kann, nur weil er es mal gemacht hat?
Etwas einfaches gut können ist tausend mal besser als etwas schwieriges schlecht können. Mich erinnert das daran, dass ich früher manchmal Bücher gelesen, die meinen Intellekt überfordert haben. Ich habe nichts verstanden und nichts dabei gelernt. Ich habe mich aber gut und klug gefühlt. Ganz zu schweigen von Musikstücken, die weit über meinem Spielniveau lagen: "Was, Du spielst schon ... ?" Das sind sogenannte Potemkinsche Dörfer.

Mir scheint, dass das Prinzip "Latte-hoch-legen" nicht nur im Musikunterricht auf dem Vormarsch ist. Die gesamte höhere Bildung feilt meiner Meinung nach zu wenig an qualitätssichernden Methoden und erzwingt demgegenüber Leistungssteigerung zu sehr durch Normerhöhung. Es gipfelt dann im Studium darin, dass der Student für die Systematik des Wissenserwerbs selber zuständig ist und vom Professor im Nachhinein auf Fehler aufmerksam gemacht wird. 
Man könnte sagen: Je höher die Bildung, umso einfacher kann sich der Lehrer hinter der bloßen Leistungsforderung verstecken. Er betrachtet die Schüler kritisch, nicht aber seine Form der Lehre. Da die Schüler dem Druck der kritischen Betrachtung erlegen sind, mühen sie sich, die Leistung irgendwie zu erbringen. Deshalb fällt dem Lehrer nicht auf, dass seine Forderung eigentlich zu hoch ist und die Qualität der Ausbildung sinkt. Auf "Fake-Leistungen" kann man nicht aufbauen, denn sie sind nicht belastbar,. 

Fake-Leistungen sind leicht zu enttarnen, indem man Aufgabenstellungen abwandelt. Das tue ich ständig und entdecke immer wieder auch Lücken. Außerdem entwickle ich einen Lehrplan, bei dem der Schüler gezwungen wird, Dinge durch ständige und variierte Wiederholung - wenn nicht gleich, dann später - zu lernen. Das Ergebnis ist solides Können, dessen Niveau allerdings deutlich unter dem Schein-Niveau des Musikunterrichtes in der Schule liegt. 
Besser wäre es, wenn man in der Schule das gleiche machen würde. Anstelle von den oben genannten  überambitionierten Projekten, die am Ende eh nur den Spaß und das Interesse an der Musik durch Überforderung töten. 







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