Warum Akkordeschrammeln pädagogisch wertvoll ist ... Teil 1

Auch ein Lehrer muss lernen. Zum Beispiel muss er lernen, mit dem Istzustand der Musikalität der Anfänger umzugehen. Wenn man die Talenteshows im Fernsehen oder virale Videos bei Youtube sieht, glaubt man, dass immer mehr Menschen immer bessere Musiker sind. Doch meine Unterrichtspraxis zeigte mir von Anfang an ein anderes Bild. Ich musste ein wenig umlernen.  

Bis zu einem gewissen Zeitpunkt meiner Gitarrenlehrertätigkeit habe ich zu jenen gehört, die vom Akkordeschrammeln mit offenen Akkorden in der I. Lage als festem Bestandteil des Unterrichtes nichts hielten. Stattdessen wollte ich den Schülern von Anfang an die Kunst des klassischen Gitarrenspiels oder des virtuosen Solospiels auf der E-Gitarre beibringen.
Mit zunehmender Unterrichtspraxis jedoch wurde ich das Gefühl nicht mehr los, gegen eine gewisse Schwerkraft zu arbeiten. Ich gestand mir ein, dass das von mir vertretene gitarristische Bildungsideal und die Realität irgendwie nicht recht zueinander passten. Außerdem plagten mich Gewissensbisse, dass ich manchem hoffnungsfrohen Anfänger die Lust aufs Musizieren ein für allemal mit einer Form von falschem Ehrgeiz verdorben habe.

Bis dahin reichten mir die nicht ganz unüblichen Ausreden. Etwa, dass die Schüler nicht genug üben, dass sich die Eltern mehr dahinter "klemmen" müssten oder dass dem modernen Menschen der Sinn für das Schöne und die Kunst verlorengegangen ist.
An wem liegt es, wenn die Fische nicht beißen? Am Angler, an den Fischen oder am Köder?

Ich tippte auf letzteres. Ich begann, mir mein Unterrichtsmaterial selber zu erstellen. Meine grundsätzliche Einsicht war: Um Musik zu machen, muss man kein Künstler sein. Die Lehrmethoden im Instrumentalunterricht sollten nicht ( wie immer noch weitverbreitet) an einer künstlerischen Laufbahn sondern an der praktischen musikalischen Lebenswelt ausgerichtet werden.

Gestandene Gitarrenlehrer mit Referenzen werden vielleicht dagegen halten, dass der Instrumentalunterricht von jeher etwas Elitäres war. Wille, Talent und Übung gehören einfach dazu. Das mag historisch gesehen richtig sein, aber die Zeiten haben sich geändert. Musikhören und Musikmachen sind mit der Entwicklung der Unterhaltungsmedien zwei getrennte Dinge geworden. Das war noch vor 100 Jahren ganz anders. Wo damals Musik erklang, musste auch jemand da sein, der sie erzeugte.

Ein für den Musikpädagogen ganz bedeutsamer Umstand ist, dass heutzutage weit weniger gesungen wird als früher. Kirche, Schule, Feste, Kneipen, Militär - Singen war einst so alltäglich wie das Sprechen. Früher haben die Leute bei der Arbeit gesungen, heute stellt man auf der Baustelle das Radio an.

Im Grunde kann jeder singen, zumindest mitsingen. Genauso wie meiner Meinung nach jeder normale Mensch auf der Gitarre ein paar Akkorde zu einem Song spielen könnte. Dafür braucht man nicht einzelne Noten und korrekte Fingerhaltung zu lernen. Und eigentlich bräuchte man dafür auch keinen Gitarrenunterricht – wenn es eine einigermaßen gut entwickelte Musizierkultur in der Gesellschaft gäbe. Doch da ist es nicht zum Besten bestellt.
In musikalischen Kulturen saugen die Kinder musikalische Grundfertigkeiten sozusagen mit der Muttermilch auf. Das ist bei uns anders geworden. Ein Gitarrenschüler bringt heute zwar jede Menge Hörerfahrungen mit, aber es mangelt an elementarster praktischer Vorbildung.
Der Musikunterricht an Schulen scheint mir immer ambitionierter zu werden, dafür aber leider immer wirkungsloser. Extrembeispiel (kein Witz!): Am Gymnasium wird von den Schülern gefordert, vierstimmige Sätze zu erarbeiten. Im Gitarrenunterricht haben diese Schüler jedoch keinerlei Gefühl  für den Wechsel von Tonika und Dominante bei einem Volkslied mit zwei Akkorden. Ein himmelweiter Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Bildung - übrigens nicht nur im Fach Musik.  

Konkret sehe ich vor allem Schwächen im Rhythmusgefühl. Die meiste Musik, die wir heute hören, ist rhythmisch klar strukturiert. An der Ampelkreuzung stehen Autos aus denen hundertstelgenaue Bassdrumbeats dröhnen. Der HipHop teilt unsere Sprache in exakte rhythmische Werte, wir alle hören das täglich ... gewollt oder ungewollt. Trotzdem mangelt es vielen Schülern am Anfang ihrer Ausbildung am simpelsten Taktgefühl. Das ist paradox, denn wenn im Radio den ganzen Tag 4/4- Drumbeats erklingen, könnte man meinen, dass der durchschnittliche Anfänger auch ohne Mitzählen die Eins finden. Doch dem ist nicht so. Belehren Sie mich eines besseren ...

Nächster Problempunkt wäre das harmonische Empfinden. Wann wechselt bei einer einfachen Melodie die Harmonie?
Ein erfolgreicher Popproduzent kann es sich ja heute kaum noch leisten, mehr als 4 Akkorde in einem Song zu verwenden. Also würde man auch hier tippen, dass die von klein auf beschallten Menschen wenigstens 2 dieser 4 Akkorde innerlich empfinden könnten. Aber wie gesagt - weit gefehlt. Das muss in den meisten Fällen gelernt und geübt - und in manchen Fällen auch erstmal sein gelassen - werden.

Ich weiß nicht, ob es Forschungen darüber gibt, wie sich die in den Instrumentalunterricht mitgebrachten Fähigkeiten in den letzten Jahren oder Jahrzehnten entwickelt haben. Es ist eigentlich auch egal, denn ich möchte keine kulturpessimistische Diskussion draus machen. Musik ist nicht das wichtigste. Aber: Fakt ist, dass es die Probleme sind, mit denen ich mich rumschlage. Oder besser gesagt - rumgeschlagen habe.

Wir kommen jetzt nämlich auf den Ausgangspunkt zurück: Gerade das von den Großmeistern verachtete Griffeklampfen ist ein sehr wirksames Rezept, um dem heutigen Durchschnittsschüler den Einstieg ins Musikmachen effektiv zu ermöglichen.
Wir schlagen mit einer Klappe nicht nur mehrere sondern alle Fliegen, die es im erfolgreichen Anfangsunterricht zu schlagen gibt. Das klingt euphorisch.

Wie und warum, das erkläre ich im nächsten Blogeintrag ...

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