Für einen sorgfältigen Lehrplan für Fortgeschrittene

Methodik und Didaktik für Fortgeschrittene ist genauso wichtig wie die für Anfänger. Ich finde es nicht richtig, dass  man den fortgeschrittenen Schüler nicht mit der gleichen pädagogischen Sorgfalt behandelt wie den Anfänger. Doch gerade im fortgeschrittenen Unterricht entscheidet sich, ob der Schüler weiter macht oder sich für "austherapiert" hält und kündigt. 

Als Musikpädagoge macht man sich Gedanken darüber, wie man dem Schüler möglichst schnell möglichst viel Können und Wissen vermitteln kann. Man sollte sich aber auch Gedanken darüber machen, wie sich der Schüler langfristig entwickeln kann. Die Grundbedingung für Langfristigkeit ist, dass der Schüler im Unterricht bleibt und nicht kündigt. An anderer Stelle habe ich beschrieben, dass die durchschnittliche Verweildauer im Unterricht ca. 3 Jahre beträgt, egal wie sehr sich der Lehrer müht. Ich möchte das insofern relativieren, als dass ein gut überlegter, qualitativ hochwertiger Unterricht im Fortgeschrittenen-Stadium die Lehrzeit durchaus verlängern kann. 

Viele Methoden und Lehrpläne konzentrieren sich sehr stark auf den Anfangsunterricht und verlieren im weiteren Verlauf an pädagogischer Qualität, an Gründlichkeit, an Systematik und an Einfühlungsvermögen in die Situation des Schülers. Ein Beispiel: Im gewöhnlichen klassischen Anfangsunterricht (Solospiel) lernt der Schüler wohl dosiert aller 14 Tage einen neuen Ton in der ersten Lage. In den oberen Lagen bekommt er aber später als Fortgeschrittener die Töne nur noch kommentarlos aufgetischt bzw. "untergejubelt". Man geht stillschweigend davon aus, dass der Schüler die feinfühlige und bedachte Didaktik der ersten Monate nicht mehr braucht. Dafür gibt es meiner Meinung nach aber kein Argument, außer vielleicht, dass im Fortgeschrittenen-Stadium nur noch jene Schüler übrig geblieben sind, die sich Töne und Noten so schnell merken können, dass sie keine Lerndosierung nötig haben. 
Das ist vergleichbar mit einer Bergwanderung, deren Schwierigkeit im Verlauf zunimmt. Sowas ist für die meisten eine frustrierende Erfahrung. Es ist wie in einem K.O.-Wettbewerb. Besiegt man einen Gegner und freut sich darüber, weiß man, dass der Lohn dafür ein schwererer Gegner sein wird. Das Prinzip der zunehmenden Schwierigkeit fördert die Auslese, bis keiner oder nur noch einer übrig bleibt. So etwas sollte in der Pädagogik keinen Platz finden. 

Es besteht keine Notwendigkeit, dass die Stufen innerhalb eines Lehrplans immer größer werden. Eher ist dies die Folge von nachlassender Gründlichkeit und fehlender Kontinuität seitens des Lehrplangestalters. Auch im Fortgeschrittenen-Unterricht hat der Schüler ein Recht auf saubere Didaktik und Methodik, auf gleichbleibende Schrittlänge und lückenlose Erklärung. Möglicherweise ist die nachlassende Sorgfalt einer der Gründe, weswegen Schüler den Unterricht aufgeben. "Ich komme nicht mehr hinterher", "Es wird mir zu kompliziert" - wenn das geäußert wird, dann stimmt irgendetwas am Plan nicht. Eher selten hört man bei Fortgeschrittenen: "Es ist mir zu langweilig.", "Es ist mir zu einfach.", "Es geht mir zu langsam voran.". 

Es gibt für mich auch keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass der Schüler mit zunehmendem Können immer mehr üben müsste. Eher umgedreht scheint dieser Glauben die Folge eines an Kontinuität verlierenden Unterrichtes in der fortgeschrittenen Phase zu sein. Wenn der Schüler nicht mehr üben würde als vorher, käme er den Anforderungen nicht mehr nach. Die Lehrplangestalter gehen also davon aus, dass der Schüler mehr übt. Ja, sie zwingen ihn dazu, und das ist nicht konsequent. Die Lernschritte müssen gleich groß bleiben. Ein Schüler, der mehr übt als vorher, kommt dadurch schneller voran. Ein Schüler, der quantitativ nicht mehr übt als vorher, sollte aber weiterkommen dürfen - in dem Tempo, in dem er bisher auch weiter kam.  

So wie in der Erziehung klare Ansagen, ein kontinuierlicher Stil und Berechenbarkeit am ehesten zu positiven Effekten beim Kind führen, führt auch ein in Form und Gründlichkeit kontinuierliches Lehrverfahren zu optimalen Ergebnissen. Schüler lieben es, neue Dinge zu erfahren, Zusammenhänge zu begreifen und ihr Wissen und ihre Fähigkeiten wachsen zu sehen. Sie lieben das System, weil es ihnen hilft und weil es Ordnung im Kopf schafft.

Eine mögliche Ursache für das Nachlassen der pädagogischen Sorgfalt  mit steigendem Niveau des Schülers ist die deutlich geringere Zahl an Fortgeschrittenen im Vergleich zu Anfängern. Wie ich eingangs andeutete, kann sich dies zu einem gewissen Teil gegenseitig bedingen. Weniger Schüler -> weniger Sorgfalt -> noch weniger Schüler.  
Wenn man sich den Markt für Lehrmaterial anschaut, erkennt man ein Abbild dessen. Unzählige Lehrwerke beschäftigen sich mit dem Anfangsunterricht. Klar: Es gibt sehr viele Interessenten, viele Anfänger, aber demgegenüber recht wenige Fortgeschrittene. Kein Verlag investiert gern in Lehrwerke, die sich an eine kleine Zahl von Käufern richten. Ein Musikerkollege von mir hat sich einmal mit einer Sammlung von Gitarren-Solostücken an einen Verlag gewandt und bekam eine Absage: "Gut, aber zu kompliziert, das kaufen zu wenige.".

Was sich im Fortgeschrittenen-Unterricht definitiv rächt, sind Lücken in der Grundausbildung. Am häufigsten sind das rhythmische Schwächen und technische Unzulänglichkeiten. Gerade im klassischen Anfangsunterricht (Melodiespiel) wird gerne mal übersehen, dass der Schüler Rhythmus nicht liest, sondern hört. Bekannte Stücke kommen ihm dabei gelegen. Das geht nicht lange gut. Das flüssige Rhythmuslesen ist Grundbedingung für Blattspiel. Blattspiel wiederum ist Grundbedingung für effektive Aneignung neuer Inhalte. Es ist genau so wie in der Schule. Lesen-Schreiben-Rechnen sind das Handwerkszeug für die höheren Fächer. 
Je länger man eine ungünstige Technik benutzt, desto frustrierender ist später die Veränderung der Gewohnheit zugunsten eines Fortschrittes. Lernen ist gut, Umlernen ist schlecht. Es ist nicht möglich, dem Gitarrenanfänger eine perfekte Technik zu vermitteln. Aber es ist möglich, ihn vor den schlimmsten Fehlern zu bewahren. Sowohl die rhythmische als auch die technische Grunderziehung kosten am Anfang Zeit und Nerven. Aber am Anfang ist der Schüler noch "erziehbar". 

Der Schüler spürt Freude, wenn er mit dem Rüstzeug eines guten Anfangsunterrichtes in der fortgeschrittenen Phase kontinuierlich weiter kommt. Dazu muss der Lehrplan so sorgfältig bleiben, wie er es im Anfangsunterricht ist. Theoretisch kann es dann auch nicht passieren, dass ein Schüler nicht mehr besser wird. Wenn doch, dann stimmt irgendetwas im Lehrplan nicht. Entweder am Anfang oder eben auch in der fortgeschrittenen Phase.