Videounterricht mit Gitarre - meine Erfahrung (Corona)

Speziell private Lehrer und private Musikschulen drängt die Corona-Krise zur Reaktion. Videounterricht ist jetzt der einzige Ausweg, Rückzahlungen und Kündigungen zu vermeiden. Dies ist mein vorläufiges Fazit nach 2 Wochen kompletter Unterrichtsumstellung.    

Dieser Text entsteht in der Zeit der durch die Corona-Pandemie verhängten Kontaktsperre. Alle Musikschulen wurden geschlossen, und privater Gitarrenunterricht wäre ein Verstoß gegen die behördlichen Auflagen.
Je nach Instrument, je nach Ausstattung und je nach persönlicher Anschauung wird jeder Instrumentallehrer eine eigene Entscheidung für oder gegen eine Weiterführung des Unterrichtes mittels Videochat getroffen haben. Ich habe mich für die digitale Alternative entschieden aus folgenden Gründen:
  1. Das Vertragsverhältnis geht weiter und ein Pandemiefall ist darin nicht geregelt.
  2. Das Honorar wird benötigt.
  3. Die Verschiebung der Vertragserfüllung (Nachholen) schafft Probleme in der Zukunft.  
  4. Die frei werdende Zeit kann der Musiker nur schwer geldwert nutzen.
  5. Der Schüler hätte eine ungünstig lange Unterrichtspause ...
  6. .. zumal in einer Situation, in der die Beschäftigung des Schülers mit dem Instrument nahe liegt.
  7. Niemand weiß, wie lange die Einschränkung für den Musikunterricht gelten wird.
  8. Da mit einer erhöhten Kündigungsquote nach der akuten Krisenphase zu rechnen ist, hilft die Fortführung des  Unterrichts, Schüler zu binden.
  9. Mittlerweile hat fast jeder Schüler mindestens ein Smartphone als technische Grundausstattung.
Ich habe alle Schüler, die im Vertragsverhältnis stehen, kontaktiert. Die Bereitschaft zu dieser Alternative würde ich mit 100% angeben. Konkrete Ausnahmen der Machbarkeit: Eine Schülerin hat an ihrem Aufenthaltsort keine Gitarre, ein zweiter Schüler hatte zunächst technische Probleme.    

Zur Technik

Ich bot zur Realisierung an: WhatsApp-Videochat, Skype oder Google HangOut. Es hat sich ungefähr folgende Quote ergeben: 90% WhatsApp via Smartphone, 10% Skype via Laptop/PC.
Meine Einschätzung zur Technik:

WhatsApp

Positiv:
  • große Verbreitung
  • einfache Bedienung 
  • einfache Verwaltung der Kontakte
Negativ:
  • hohe Latenz (Signalverzögerung)
  • je nach Netzverbindung und Smartphone schlechte Ton- und Bildqualität
  • Rückkopplung
  • zu kleines Display am Smartphone
  • Schwierigkeiten der Schüler eine optimale Smartphone-Position zu finden
Skype

Positiv: 
  • großes Bild am Rechner
  • bessere Bild- und Tonqualität
  • stabile Kameraposition (speziell am Laptop)
  • Latenz halbwegs machbar
Negativ:
  • geringere Verbreitung (Microsoft-Konto notwendig)
  • Software anfällig (Kamera oder Ton fallen manchmal zu Beginn aus)
  • Kontakte sind nicht ganz so komfortabel zu finden und zu verwalten
Klares Fazit: Könnte ich es bestimmen, würde ich mich gegen das Smartphone und für Skype am Rechner entscheiden. 

Limitierungen des Unterrichts durch die Technik bzw. durch Technikprobleme 

Aufgrund der unvermeidbaren Übertragungslatenz ist es praktisch unmöglich, im Videounterricht gemeinsam zu musizieren. Bis der Lehrer hört, was der Schüler zu dem vom Lehrer gespielten spielt, vergeht die doppelte Latenz. Da sind 500 ms ganz normal. Schon 100 ms sind aber zuviel. Das ist für mich ein großes Problem, denn wir spielen im normalen Unterricht  sehr oft  gemeinsam.
Einzählen zur Tempovorgabe macht allerdings Sinn, der Lehrer hört den Schüler dann halt etwas später beginnen. Wenn es wirklich nötig war, habe ich den Schüler aufgefordert, mit mir mitzuspielen, nur konnte ich sein Spiel dann nicht analysieren, weil es zeitversetzt war und meistens auch von meinem Klang übertönt wurde. 
Der Unterricht beschränkt sich also eher auf Abhören, Erklären und Vorspielen. 
Teilweise behindert die Qualität speziell beim Smartphone die Bewertung des vom Schüler gespielten. Das hat zwei Gründe. Erstens arbeitet das Mikrofon des Smartphones während des Chats mit einem Noise Gate, d.h. dass erst ein gewisser Grundpegel der Signallautstärke das Mikrofon aktiviert, bzw. dass bei lautem Lautsprechersignal das Mikrofon leise gestellt wird (Feedbackvermeidung). Das hat zur Folge, dass manche Töne einfach nicht übertragen werden und fehlen. Und außerdem gibt es zweitens (v.a. auf dem Smartphone) Übertragungsaussetzer. Das Bild bleibt stehen und es fehlt der Ton.  
Auf Smartphone oder Laptop gleichermaßen ist es nur sehr schwer möglich, linke und rechte Hand gleichzeitig im Bild zu haben und trotzdem deutlich zu erkennen, welche Saite ein Finger gerade spielt. Hier funktioniert nur die Kontrolle per Gehör, was bei Akkorden durch mittelmäßigen Sound erschwert wird.  

Positive Effekte

Doch man kann dem Ganzen Gutes abgewinnen. Meine Beobachtung ist, dass der Schüler aufgrund der Limitierungen zu größerer Konzentration gezwungen ist.
Ich selber muss aufgrund der Einschränkungen genauer erklären, langsamer sprechen. deutlicher sprechen und unnötige Bemerkungen vermeiden. Der Informationsfluss ist sozusagen verengt, deswegen entstehen auf beiden Seiten mehr Nachfragen. Doch auch dies führt zu eben jener größeren  Konzentration, die im normalen Unterricht schnell mal verloren geht.
Grundsätzlich haftet den "neuen Medien" ein jugendliches Image an bzw. "schmücken" sich Jugendliche mit Technik. Videounterricht ist demzufolge ein bisschen "schick". Das steigert das Wohlwollen. Zumindest in den ersten Wochen hat das auch einen gewissen Sensationswert.
Interessant ist, dass weit weniger Unterricht abgesagt wird. Das kann an fehlenden Ausreden liegen, aber bestimmt auch an der Bequemlichkeit des Unterrichts daheim. Man kann sich den Weg sparen, und man ist in seinem vertrauten Umfeld.
Eventuell hat das zu-Hause-sein auch einen Stress mindernden Effekt, der zu besserer Leistung beim Spielen führt. Ich erhoffe mir sogar einen positiven Effekt auf das Üben zu Hause. Zum Beispiel habe ich bemerkt, dass einige Schüler eine ungünstige Übesituation haben. Diese konnte ich ein wenig korrigieren. Der Schüler kann sozusagen zum Alleinüben gleich sitzen bleiben.
Bei ambitionierten Schülern kann man mit einem Plus an autodidaktischen Fähigkeiten und Selbstkontrolle durch diese Unterrichtsweise rechnen.
Ich baue sehr gern Spiele, Wiederholungsaufgaben, Tests usw. in den Unterricht ein, die oft auf der unmittelbaren Interaktion aufbauen. Nun muss ich mir verstärkt Varianten überlegen, die der Schüler auch ohne mich "spielen" kann. Ein guter Anlass für neue Ideen.

Fazit und Ausblick

Sagen wir es so. Wir sind im Jahre 2020, bis vor kurzem war Digitalisierung eines der am meisten benutzten Worte in öffentlichen Debatten. Videotelefonie ist seit 20 Jahren verbreitet. Aber meine Erfahrung allein mit der technischen Situation ist demgegenüber ernüchternd.

Die Idee, dass Videounterricht auch nur annähernd die reale Begegnung ersetzen könnte, kann man sich getrost aus dem Kopf schlagen. Ich hoffe, dass die Kontaktsperre bald vorbei ist.
Viele Betreiber digitaler Angebote profitieren von diesem Zustand. Es sei ihnen gegönnt, denn ohne diese Möglichkeiten, wäre jetzt alles viel schlimmer. Oder, wenn man es umdreht, könnte man sagen: Ohne diese Möglichkeiten wären diese Pandemie-Maßnahmen möglicherweise nicht denk- und durchsetzbar. 
Vielleicht machen sich nicht wenige Betreiber nun Hoffnung, dass die nunmehr erzwungene Nutzung ihrer Angebote die Menschen überzeugt, in einer pandemiefreien Zukunft vermehrt darauf zuzugreifen. Doch ich sehe dabei nun aus eigener Erfahrung zwei dabei unterschätzte Faktoren:
  1. Die Nachteile der Technik werden umso deutlicher, wenn man darauf angewiesen ist und diese nicht nur eine Ergänzung darstellen. 
  2. Die Kontaktsperre wird über kurz oder lang mit negativen Gefühlen belegt und erinnert werden - und demzufolge auch alles, was fatal an diese Zeit erinnert. 
Je länger dieser Zustand anhält, desto schwieriger wird es aus pädagogischer Sicht, den konzipierten Langzeit-Lernprozess durchzuführen. Man lebt sozusagen von der Substanz, von allem, was man vorher oft mühevoll im unmittelbaren Kontakt aufgebaut hat. Die persönliche Begegnung und das gemeinsame Spiel wird durch nichts ersetzt, egal was sich die Entwickler noch alles ausdenken.

Warum betone ich das? Virtualisierung ist ein wirtschaftlicher Trend. Die Kosten und die Barrieren für technisch basierte Lernhilfen werden immer kleiner, vor allem in Relation zu den Kosten einer persönlichen menschlichen Leistung. Ab jetzt wird womöglich selbst das gesundheitliche Risiko einer persönlichen Begegnung in die Waagschale des Vergleichs geworfen.
Videounterricht bleibt für mich ein Ersatz in der Not, aber keine Alternative auf lange Sicht.   

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