Grausame Musiktheorie

Immer wieder stoße ich auf Ungereimtheiten und Widersprüche, wenn ich den Schülern die Musiktheorie möglichst plausibel nahe bringen soll. Ich muss mir auf die Zunge beißen, manchen Irrsinn zu verschweigen und hoffe, dass der Schüler nicht von selbst schon auf den einen oder anderen theoretischen und logischen Quatsch entdeckt. Die Musiktheorie ist zuweilen inkonsistenter als Geheimwissenschaften oder Esoterik..

Falsch getaktet

Die Logik eines Vier-Viertel-Taktes herzuleiten, ist nicht allzu schwer. Ein ganzer Takt wird in vier gleich große Teile geteilt, jeder Grundschlag ist ein Viertel des Taktes lang. Zwei Halbe ergeben genauso einen ganzen Takt wie 8 Achtel und sämtliche Kombinationen aus sämtlichen rhythmischen Werten. Wenn es jedoch um die Erklärung des Dreiertaktes geht, passiert ein unlogischer Sprung. Das Viertel ist kein Viertel mehr, denn der ganze Dreiertakt ist in drei Drittel geteilt worden. Wenn ein Vier-Viertel-Takt aus vier Vierteln besteht, muss ein durch drei geteilter Takt mathematisch richtig Drei-Drittel-Takt heißen. Noch absurder wird es, wenn z.B. zwischen einem Drei-Viertel-Takt und einem Drei-Achtel-Takt unterschieden wird.
Sachlich und logisch richtig wäre es, wenn man am Metrum (Beats pro Minute) einen Grundschlag festmachen würde. Dieser Grundschlag würde sich nun problemlos logisch teilen und vervielfachen lassen. Es gäbe nur noch 2er-, 3er-, 4er- usw. Taktarten. Das, was bisher Achtelnoten waren, sind nun Halbe Noten, da sie die Hälfte des Grundschlages lang sind, Sechzehntelnoten = Viertelnoten, Halbe Noten = Doppelte Noten usw..
Der Rhythmus wäre so ganz schnell und logisch erklärbar. Praktisch funktioniert es genau so, nur die Theorie ist unlogisch.

Aller Anfang ist C und nicht A

Das Alphabet beginnt mit dem Buchstaben A. Die Mehrheit der Lieder steht in Dur-Tonarten. Nur leider ist die zentrale, vorzeichenlose Tonart des Quintenzirkels nicht A-Dur sondern C-Dur. Warum? Es wird einen oder mehrere historische Gründe geben, die ich leider auf Anhieb nicht weiß. Vermutlich war Dur früher nicht so vorherrschend wie heute. Vielleicht ist es der volkstümliche Klang von C-Dur oder der von mir vermutete Umstand, dass C-Dur äußerst kompatibel für die meisten Stimmlagen ist. Der historische Hergang lässt wie bei den anderen Ungereimtheiten meist darauf schließen, dass es keinen theoretischen Grund gab. Jemand hat es als erster so gemacht und viele andere haben es nachgemacht. Und dann war es eben so. Eine Änderung wäre gar nicht so umständlich, klingt aber dem erfahrenen Musiker wie ein Hohn: Dort wo jetzt das C auf dem Klavier ist, wäre das A. A-Dur hätte keine Vorzeichen, C-Dur hätte 4 Vorzeichen, nämlich Dis, Eis, Ais und Bis. Klingt irgendwie verrückt, aber für den Schüler ohne Vorbildung klingt E-Dur mit 4 Kreuzen genauso verrückt.

H oder B oder Bb oder B?

Die Gründe für die Existenz des deutschen H kann und will ich nicht untersuchen. Die mehr oder weniger offizielle Erklärung, dass der aufkommende Notendruck und ein fehlendes Auflösungszeichen in den Lettern zu dieser augenscheinlichen Veränderung führte, erscheint mir aus mehreren Gründen nicht plausibel. Erstens gab es in England auch Notendruck; zweitens braucht man Auflösungszeichen nicht nur beim H; drittens müssen gedruckte Noten nicht mit Tonnamen ausgesprochen oder aufgeschrieben sondern gespielt werden.
Vielmehr ahnen wir, wie in früheren Zeiten gedacht wurde - nämlich irrational, mystisch und wenig konsistent - oder gar nicht. Man hat es halt "irgendwie" gemacht. Aber egal: Irre wird es heute, wenn Autoren in deutschsprachigen Büchern z.B. anstelle eines Akkordes H7 ein B7 notieren. Der Grund ist klar -  sie möchten eine standardisierte und logische Bezeichnung verwenden, die auch international verstanden wird. Dabei entsteht aber ein kleines Problem, wenn man in deutscher Sprache unterrichte. Das Bb wäre zwar vom (englischen) B als Zeichen unterscheidbar, nicht aber in der Aussprache. Für mich war das bis jetzt der Grund, im Unterricht weiter H und Bb zu verwenden. Doch der Gitarrenlehrer Bernd Kiltz schlug in einem Video vor, das H konsequent B zu nennen und das Bb dann "Bes" . Das wäre eine saubere Lösung, deren Nachteil allerdings ist, dass 99% der deutschen Musiker kein Bes kennen.

Die reine Lehre

Als Spieler eines wohltemperierten Instrumentes leben wir mehr oder weniger gut mit der enharmonischen Verwechslung. Ich denke, dass geschätzte 95% der heute gehörten Musik schon deshalb wohltemperiert ist, weil sie von Tasten- und Saiteninstrumenten dominiert ist. Ich mache den Schülern den Unterschied zwischen rein und wohltemperiert am E-Dur-Akkord in der ersten Lage deutlich. Ich stimme das gis etwas tiefer, so dass ein ganz reiner Durdreiklang entsteht. Danach spiele ich C-Dur in der ersten Lage und die Quinte g ist deutlich hörbar zu tief. Einerseits wird so die Bedeutsamkeit des Unterschieds hörbar, andererseits aber eben auch, dass dieser Unterschied im nicht reinen, wohltemperierten Durakkord zu vernachlässigen ist. Die Musiktheorie beharrt auf einem theoretischen Unterschied, der in der Praxis eigentlich keine Rolle (mehr) spielt. Bürokratie funktioniert genauso. So manches könnte leichter und verständlicher sein, aber die Last der Vergangenheit und die Lust derer, die diese Last bewältigen können, summieren sich zu einer unüberwindbaren Hürde für Reformen, die den Nachkommen manches einfacher machen würden. 
Wir dürfen bei der Diskussion einfach nicht verschweigen, dass es eine Vielzahl von Musik gibt, die mit dem System der reinen Stimmung sowieso nicht festzuhalten ist. Gerade die elektronische Musik ermöglicht die Verwendung von Mikrotonalität, die völlig anders gedacht und notiert werden müsste, als die letztlich auf diatonischen Tonleitern beruhende Harmonielehre.  

Die Dominante, die nicht zu Hause ist

Recht unglücklich ist die Musiktheorie auch bei der Vergabe der Funktionsbezeichnungen von Harmonien. Harmonien auf der 5.Stufe werden "Dominante" genannt. Aus der Umgangssprache wissen wir alle um die Bedeutung des Wortes "dominant" - was soviel wie herrschend, beherrschend, vorherrschend bedeutet. Die Herleitung der Bedeutung läuft allerdings über das lateinische Wort Dom = Haus. Die (lat.) Domina ist die Hausherrin und das Wort dominare bedeutet "herrschen" im Sinne von häuslicher Herrschaft (also Damschaft ;-) ). Genau da liegt das Problem, das ich mit dem Begriff habe. Wenn ich Schülern die einfache Kadenz in Dur und die Wirkung deren Harmonien vorstelle, dann ergibt sich wie von selbst die Assoziation, dass die Tonika den Charakter von Dom/ zu Hause hat, während die Dominante das genaue Gegenteil von "häuslicher Geborgenheit" ist. Zur Rettung der Begrifflichkeit behaupte ich den Schülern gegenüber, dass die Dominante eben der wichtigste Akkord unter allen Stufenakkorden ist. Abgesehen davon, dass dies eigentlich die Tonika ist, die hier schon mal stillschweigend ausgeschlossen wurde, ist Wichtigkeit/Häufigkeit eine andere Kategorie als Herrschaft. Hier hat sich eine ursprüngliche Bedeutung über eine Umdeutung zu einer im Sinn regelrecht gegensätzlichen Begrifflichkeit in die Musiktheorie eingeschlichen. Das ist nur mit dem Holzhammer zu vermitteln.

Wo Musiker zu zählen beginnen

Intervallbezeichnungen zu erklären, ist anhand einer Gitarrensaite einerseits recht anschaulich, andererseits aber auch verwirrend. Wenn sich ein Schüler mit lateinischen Zahlen ein wenig auskennt, verwirrt ihn schon mal, warum die Oktave (8) aus 12 Halbtönen/Bundstäben besteht. Man kann die Verwirrung abmildern oder verhindern, indem man ihn vorher die Dur- und/oder Molltonleiter auf einer Saite spielen lässt und die Töne abzählt. Da kommt man auf 8. Aber nur, wenn man den ersten Ton mitzählt. Das kommt dem Schüler auch nicht komisch vor. Unlogisch wird es aber, wenn plötzlich diese benannten Stufen zu mathematisch organisierten Abständen (Intervallen) umfunktioniert werden. Nichts anderes passiert aber, wenn wir den Abstand zwischen erstem und letztem Ton der Durtonleiter mit dem Namen des letzten Tones als Oktave angeben. Die zugrunde liegende Rechnung hieße 8 - 8 = 1. Was für ein Blödsinn. Noch besser: Der Abstand zwischen c und c ist ein Prime (also = 1), obwohl er mathematisch und physikalisch gesehen Null ist. Wie soll man einem Schüler mit mehreren Jahren Mathematikunterricht so etwas erklären? Es fehlt schlicht und ergreifend die Null in den Intervallbezeichnungen. Die Zählung beginnt bei 1, offenbar weil Musiker nicht wussten, dass die kleinste Ganzzahl die Null und nicht die Eins ist. Es erinnert mich an die vermutlich von Künstlern angezettelte Diskussion, dass das neue Jahrtausend doch eigentlich erst mit dem Jahre 2001 beginnt.

Schlüsselerlebnisse

Vier Notenschlüssel sind heute noch gebräuchlich: Violin-, Alt-, Tenor- und Bassschlüssel.  Und da klingt irgendwie schon heraus, dass es früher noch mehr waren. Die Intention der Erfinder war, Hilfslinien zu vermeiden. Dies aber offenbar zu einem Zeitpunkt, als Instrumente und Musikstücke einen Tonumfang hatten, der im Fünf-Linien-System Platz hatte. Am Beispiel der menschlichen Stimme wird der Ansatz plausibel. Eine durchschnittliche Gesangsstimme hat maximal 2 Oktaven Tonumfang, gut singbar sind es nur noch 1,5 Oktaven. Wenn Lieder nicht in ein und derselben Tonart gesungen werden sollen, bleibt eine maximale Teilmenge von etwa einer Oktave, die ein Lied nicht überschreiten sollte um singbar zu bleiben. Bei einem solchen Umfang lohnt sich tatsächlich das Verschieben innerhalb des Systems  zur Vermeidung von Hilfslinien. Aber nehmen wir nur die Gitarre: Kein Schlüssel der Welt kann hier vermeiden, dass der Gitarrist Hilfslinien lesen muss. Die einzige sinnvolle Methode, das Lesen zu erleichtern, ist die Oktavierung des Schlüssels oder eben eines Bereiches im Notentext. Unklar bleibt für mich übrigens, wieso die Oktavierung um eine Oktave mit einer 8 ( oben oder unten am Schlüssel) angegeben wird, die doppelte Oktavierung allerdings mit 15 statt mit 16. Es ist wohl wieder mal schlicht Nonsens.
Der Bassschlüssel auf dem Piano bringt beispielsweise einen Platzvorteil von einer Terz gegenüber einem nach unten oktavierten Violinschlüssel. Das ist nun wirklich kein echter Gewinn. Die Hilfslinien, die unten eingespart werden braucht man oben und umgekehrt. Und wegen einer lächerlichen Terz muten wir dem Schüler zu, alle Notenpositionen neu zu lernen?        

Wo ist oben und unten?

Die Tabulaturschreibweise und Griffbrettschemen für Akkorde und Skalen auf der Gitarre sind aus der Lehrpraxis nicht wegzudenken. Die Saiten der Gitarre sind so dargestellt, dass die tiefste Saite durch die unterste Linie dargestellt wird. Bei manchen Schülern führt das zwar zu Irritationen, da sie das Griffbrett als Frontalansicht deuten, aber ich finde richtig, dass  sich die Darstellung aus Sicht des Spielerauges durchgesetzt hat. Wenn der Schüler diese endlich verinnerlicht hat, fällt es mir sehr schwer zu vermitteln, dass die Saitenzahlen nicht von unten nach oben (wie bei einem Koordinatensystem) vergeben wurden, sondern umgedreht von oben nach unten. Vermutlich wurde das so gewählt, weil zusätzliche Saiten bei Gitarren (z.B. 7-Saiter) oder Bässen tiefer sind und die Zahlen der Saiten somit nach oben hin offen sind. Das Argument kehrt sich aber auch ins Gegenteil, wenn man bedenkt, dass  z.B. bei Banjo oder Ukulele die hohen Saiten fehlen. Besser - weil logischer - wäre es, die Saiten unabhängig von Stimmung und Dicke von "nah" nach "fern" aus Spielersicht zu nummerieren.
Noch unklarer aber wird es, wenn man sich überlegt, dass die Bezeichnungen Abschlag und Aufschlag der Darstellung in einem Tabulatursystem und auch in rhythmischen Notationen entgegen stehen. Möchte man dort einen Abschlag notieren, muss man konsequenterweise einen Pfeil nach oben notieren. Wir Gitarristen haben uns dran gewöhnt, aber viele Einsteiger kommen damit durcheinander.

Babylon Gitarre

Ich habe es mal zusammen gezählt: Im Gitarrenunterricht verwendet man Begriffe, die  aus 7 verschiedenen Sprachen kommen bzw. sich daher ableiten. Ich glaube, es gibt keine Wissenschaft, bei der mehr als 3 Sprachen in die Fachsprache einfließen, deswegen führe ich das hier mal mit an:
1. Deutsch - das ist klar: Hals, Steg, Notenschlüssel.
2. Lateinisch - z.B. die Intervallbezeichnungen.
3. Griechisch - z.B. Pentatonik, Diatonik, Kirchentonarten.
4. Englisch - als Sprache des Pop/Rock, aber auch Bezeichnungen wie Cmaj7.
5. Italienisch - klassische Vortragsbezeichungen, Tempi.
6. Französisch - z.B. Barré oder auch "Sixt Ajouté" (Sextakkord als Subdominante).
7. Spanisch - Fingerbezeichnungen, Percussionbezeichnungen.
Es handelt sich also um ein Sammelsurium, in dem eine Sprachbegabung des Schüler von Vorteil ist.


Ich hätte glaube ich noch ein paar mehr Beispiele, die mir immer wieder aufgefallen sind, die ich aber jetzt nicht parat habe und es reicht eigentlich auch für diesen Aufsatz.
Ich möchte die Feststellungen nicht mit einem Aufruf zum Handeln (Reform) verbinden. Aber ich möchte folgendes zu bedenken geben: Prinzipiell ist es so, dass sich Dinge (in Relation zu ihrer Komplexität) dann gut verbreiten, wenn sie gut zu verstehen sind. Dinge sind dann gut zu verstehen, wenn sie in sich stimmig und nachvollziehbar sind. Sind sie das nicht, gibt es ein Hindernis. Im Falle der Musiktheorie muss der Schüler mehr Energie aufwenden, um zu verstehen. Die Folge ist unter anderem, dass es weniger verstehen als es verstehen könnten. Das ist ein Problem für die Verbreitung und schlimmstenfalls sogar für den Erhalt einer Kultur. So krass muss man das sagen.

    

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