Trotz Üben schlechter werden?

Welcher Musiker hat das nicht schon einmal festgestellt? Man übt fleißig und dennoch kommen immer wieder Phasen, in denen man den Eindruck hat, eher schlechter als besser zu werden. Ich möchte ein paar Gründe vorschlagen, warum das keine Einbildung ist bzw. wenn doch, woher die Einbildung kommt.

Bibliotheksmanagement

Zu einem bestimmten Teil, ist die Gefühl schlechter zu werden keine Einbildung, sondern eine Phase im Prozess des Erwerbs von Wissen und Können.
Ich habe mal irgendwann und irgendwo gelesen, dass der Umgang des Gehirns mit Lerninhalten den Vorgängen in einer Bibliothek gleicht. Vielleicht habe ich es mir auch selbst ausgedacht, ich weiß es nicht. Da gibt es eine Bücherausgabe - das ist sozusagen unser Bewusstsein, dass gelernte Inhalte (Wissen, Können, Erinnerungen, Assoziationen) ausgibt. Sei es als reale Handlung (z.B. Sprechen, Musizieren) oder nur als Gedanke (Vorstellung). Desweiteren gibt es ein riesiges Lager, in dem Bücher (Informationen) mehr oder weniger geordnet gelagert werden. Dieses riesige Lager ist viel größer als man es an der vergleichsweise kleinen Bücherausgabe vermuten würde. Ich bin sogar der Meinung, dass sämtliche Informationen unseres Lebens im Lager archiviert werden. Allerdings sind die meisten davon nicht ausleihbar. Sie gehen ins Archiv und werden nie wieder angesehen. Für unsere intellektuellen Leistungen sind die ausleihbaren Bücher wichtig. Nicht nur die Menge der ausleihbaren Bücher, sondern auch die Geschwindigkeit und die Zuverlässigkeit, mit der an der Ausleihe die gewünschten Bücher aus dem Lager beschafft werden können. Relativ häufig müssen die Mitarbeiter an der Theke sagen: "Wir haben zu Ihrer Anfrage kein ausleihbares Buch gefunden." Was nicht heißt, dass das gewünschte Buch nicht vorhanden wäre. Uns interessieren die Bücher, die  vorübergehend als nicht ausleihbar gemeldet werden. Z.B. wenn das Buch gerade irgendwo im System unterwegs ist. Manchmal passiert das mit den Büchern, die viel ausgeliehen werden. Manchmal passiert das mit Büchern, die neu sind und noch einen passenden Standort suchen. Manchmal ist sich die Bibliotheksleitung auch noch nicht sicher, ob das Buch ausleihbar sein soll oder nicht.
Ich will sagen, dass es beim Erwerb von Wissen und Können so etwas wie eine instabile Phase gibt, in der das Gehirn testet, ob es einem gewissen Inhalt den Status der "Ausleihbarkeit" verleihen soll oder ob es im Archiv verschwindet. In so einer Phase haben wir schlimmstenfalls das Gefühl, dass ein schon beherrschter Inhalt wieder weg ist und dass sich unsere Leistung dahingehend verschlechtert hat. Bleiben wir beim Beispiel der Bibliothek: In dieser Phase ist es besonders wichtig, dass dem Management der Bibliothek die hohe Nachfrage mit Nachdruck klar gemacht werden muss, damit die Entscheidung für die Ausleihbarkeit schnell gefällt wird und positiv ausfällt. Das  retardierende Moment im Prozess des Wissenserwerbs ist sozusagen die Prüfphase vor der Zulassung. 


Mit dem Können steigt der Anspruch

Zu einem gewissen Teil ist das Gefühl, schlechter zu werden, allerdings tatsächlich eine Einbildung. Das stellt sich spätestens dann heraus, wenn ein objektiver Beobachter, wie z.B. der Gitarrenlehrer, zu einem anderen Urteil kommt. Ein Grund für diese Selbsttäuschung ist, dass mit den Fähigkeiten auch die Ansprüche wachsen. Oder anders gesagt: Ein steigender Anspruch ist ein untrügliches Zeichen für Fortschritte. Er ist Bestandteil des steigenden Niveaus. Ich habe letztens ein Lehr-Interview von Steve Vai gesehen. Er hat darin den Schüler aufgefordert, auf einen schönen Ton zu achten, auf ein exaktes Timing und auf die Qualität der Musik. Das ist völlig richtig. Allerdings finde ich, dass sein persönlicher Anspruch an Qualität ein wesentlicher Bestandteil seines musikalischen Niveaus ist. Ein Anfänger hat deutlich geringere Ansprüche an Klang, an Timing und musikalischem Reichtum. Es wäre schlichtweg unerträglich für einen Anfänger, wenn sein Anspruch bereits auf professionellem Niveau wäre, seine Leistung jedoch auf Anfängerniveau. Die Unzufriedenheit mit sich selbst, ist - sofern unbegründet - ein gutes Zeichen. Und sie ist bestenfalls ein Ansporn zu weiterer Arbeit. Es ist so, wie das der Börsenliterat Kostolanyi einst über das Verhältnis zwischen  Börse und Wirtschaft schrieb: Die Börse ist wie ein Hund an der Leine, mal rennt er voraus und mal hängt er hinterher. Genauso ist es mit dem Anspruch an seine Leistung. Ist der Anspruch niedriger als die Leistung , ist man überrascht über sich selbst und erfreut. Das passiert vielen Schülern meist dann, wenn sie nicht geübt haben - z.B. nach einem Urlaub. Ist aber der Anspruch hoch, z.B. weil sie viel geübt haben, dann hat es die Leistung schwerer mitzuhalten. 


Mit dem Können steigt die Urteilsfähigkeit

Bei dem Interview mit Steve Vai fiel mir auch ein, dass ein nicht ganz so guter Musiker die Qualität seiner Leistung nicht ganz so gut beurteilen kann. Die Urteilsfähigkeit ist ebenso fest an das Leistungsniveau gebunden wie der Anspruch. Ich erlebe es relativ häufig, dass Schüler ihre Fehler nicht bemerken bzw. erst dann, wenn ich sie darauf aufmerksam mache. Genau dafür ist der Gitarrenlehrer da. Wenn der Schüler jedoch Fortschritte macht, wird er automatisch sensibler für die Qualitätsmerkmale. Und er wird sicherer im Urteil über Qualität. Er beurteilt sich selbst kritischer. Und auch hier spaziert der Hund an der Leine vor und zurück. Es kann passieren, dass die Urteilsfähigkeit der Leistungsfähigkeit voraus eilt und dass die Folge jenes Gefühl des Schlechterwerdens ist. Und auch hier ist der Hund schon dort, wo das Herrchen bald sein wird. Vorausgesetzt es geht weiter und lässt sich nicht entmutigen durch die Einbildung, dass Üben eigentlich nichts bringt. 


Üben macht Druck

Üben ist in der Regel die Vorbereitung auf den nächsten Unterrichtstermin. Viele üben nur am Vorabend der nächsten Stunde. Das ist ja schon mal was, wenn auch zu wenig. Manche üben aber tatsächlich fast jeden Tag. Vielleicht freuen sie sich dann viel mehr auf den nächsten Unterricht, denn sie kommen gut vorbereitet. Vielleicht aber haben sie auch etwas Angst, dass der Lehrer bei einer schlechten Leistung denken könnte, dass sie nicht geübt haben. Es entsteht also ein gewisser Druck aus der Tatsache, dass man den Unterricht und das Üben ernst nimmt. Dieser Druck kann zu einem gewissen Teil zu einem Leistungsdefizit im Unterricht beitragen - Stichwort Lampenfieber. Vielleicht haben Sie auch manchmal so ein komisches Gefühl, wenn Sie nach einem Einkauf am Ausgang durch die Diebstahlkontrolle laufen? Es könnte piepsen, obwohl Sie der ehrlichste Mensch der Welt sind. So ungefähr geht es dem vorbildlich übenden Schüler manchmal. Seine Gewissenhaftigkeit macht ihm Druck. In dessen Folge können Verkrampfungen, Konzentrationsschwierigkeiten und Schusselfehler entstehen, die dem Gefühl Vorschub leisten, dass das viele Üben nichts gebracht hat. 


Hinter dem Horizont lauert der Horizont

Wenigstens beim Blick zurück sollte sich beim Schüler das Gefühl einstellen, einen Weg zurück gelegt zu haben. Beim Blick nach vorn ist das manchmal schwierig. Speziell dann, wenn hinter dem Horizont auch nur wieder der Horizont auftaucht. So relativiert sich der zurückgelegte Weg. Das kann zumindest zu der Empfindung beitragen, dass man trotz Übens nicht voran kommt. Das ist noch nicht ganz so schlimm, wie wenn man glaubt, schlechter zu werden. Aber auch im Alltag stellt sich meist nach einem Erlebnis des Vorankommens irgendwann die Ernüchterung angesichts des noch nicht Erreichten ein. Das kann beim Musizieren dazu führen, dass man die Lust verliert. Für den Gitarrenlehrer und auch für den Lehrbuchautor ist es wichtig zu bedenken, dass der Blick des Schülers möglichst nicht allzu oft auf den Horizont, sondern nur auf das nächste Etappenziel gerichtet sein sollte. Ich finde z.B. Gitarrenschulen mit mehr als 50 Seiten kontraproduktiv. Stücke müssen so gewählt sein, dass sie innerhalb von maximal 4 Wochen Übezeit musikalisch zu bewältigen sind. Besser noch, der Schüler kann sie bei der ersten Sichtung schon mal langsam vom Blatt spielen. An anderer Stelle verwies ich darauf, dass der Schüler eh immer das am meisten spielt (und damit übt), was er am besten kann. Umso besser, wenn der Zugang zum Stück leicht ist.


Üben ist nicht gleich Üben

Ja, es gibt "falsches Üben", das letztlich zu objektiv feststellbarer Leistungsminderung führen kann. Man kann seine Fehler kultivieren, indem man sie immer und immer wieder wiederholt. Das passiert Autodidakten häufig. Es passiert aber auch Schülern, die nicht richtig hingehört haben, wie sie üben sollen. Oder es passiert Schülern, denen der Lehrer nicht zeigt, wie man richtig übt. Falsches Üben ist beispielsweise unsauberes bis fehlerhaftes Spiel infolge von zu großer Geschwindigkeit. Ich lege sehr viel wert darauf, dass die Schüler in der Lage sind, Tempi erstens aufzunehmen und zweitens beizubehalten. Desweiteren bewerte ich ein langsam und richtig gespieltes Stück deutlich positiver als ein zu schnell und fehlerhaft gespieltes Stück.
Das Spielen mit fehlerhafter Technik kann ebenfalls dazu führen, dass Fleiß nicht mit Leistungssteigerung belohnt wird. Schlimmstenfalls gar mit Verletzungen wie der gefürchteten Sehnenscheidenentzündung.

Das sind also gleich 6 mögliche Ursachen für das zum Glück vorüber gehenden Gefühl, dass Üben nichts bringt oder eben zur Leistungsminderung führt. Von den psychologischen Ursachen für eine generell zu kritische Sicht auf die Dinge mal ganz abgesehen. Es gibt im Leben und auch in der musikalischen Entwicklung immer retardierende Momente, Misserfolge, Durststrecken, Pleitewellen. Das zu überwinden ist in meinen Augen die größte Leistung des späteren Meisters.


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